Das Buch IS THERE JUSTICE? NO – JUST US! Heinz Steinerts realistischer Sinn für Utopie ist eine Sammlung von Essays, die sich mit der Philosophie von Heinz Steinert und seiner Vorstellung einer realistischen Utopie auseinandersetzen. Steinerts akademische Mitarbeiter haben mit dieser Sammlung Themen aufgegriffen, die noch heute schmerzlich relevant bleiben, eine nötige Überarbeitung der Kriminologie weg vom Strafrecht und hin zum Sozialrecht. Im Gespräch mit Arno Pilgram besprachen wir die Entstehung und die heutige Relevanz des Sammelbandes.

Steinerts Biografie

Heinz Steinert, geboren 1942 in Teschen und in Wien aufgewachsen, war Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt am Main. Im Jahr 1973 war er Mitbegründer des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie an der Universität Graz, wo er einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der soziologischen Forschung leistete. Er beschäftigte sich intensiv mit Themen wie sozialer Kontrolle, Strafrecht und der Konstruktion von „Kriminalität“ in Gesellschaften. Sein Werk war stark von der Kritischen Theorie (Frankfurter Schule) beeinflusst.

Steinert war bekannt für seinen „realistischen Sinn für Utopie“, der es ihm ermöglichte, utopische Konzepte nicht als theoretische Fantasien zu sehen, sondern als Werkzeuge für gesellschaftliche Veränderung. Dabei kritisierte er die bestehenden sozialen und politischen Strukturen und setzte sich für eine Gesellschaft ein, die auf mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit basiert. Der erste Abschnitt des Werkes befasst sich mit Steinerts Lebenswandel und zeigt auf, wie er stets Wege fand, seine Theorien in die Realität umzusetzen. So arbeitete er bei Neustart in der Bewährungshilfe oder wirkte beim SPÖ Programm Kreiskys mit und propagierte so für eine „gefängnisfreie Gesellschaft”.

Pilgram über das Leben und Wirken Steinerts

Im Interview mit dem Soziologen Arno Pilgram im Cafe Raimund in der Museumstraße um die Ecke vom kriminologischen Institut, wo auch Steinert tätig war, erweckten wir dessen Thesen über einem kurzem Braunen nochmals zum Leben.

Kiminologe Arno Pilgram

Pilgram schmunzelt, wenn er an geteilte Erinnerungen mit Steinert zurückdenkt. Er erinnert sich daran, wie er und Steinert Daten auswerteten und er riesige Pakete mit Lochkarten mit zum Treffen brachte. Zu Beginn als Pilgram selbst sich noch im Studium befand, war Steinert wohl ein Mentor, später wurde er ein Freund. Für ihn persönlich kam seine eigene akademische Laufbahn eher überraschend.

Herr Pilgram, wie interpretieren Sie Steinerts Thesen im Sammelband?

Steinert ruft zu einer straf- und ausgrenzungskritischen Grundhaltung auf. Er warnt davor, die Bedürfnisse der Beschuldigten zu missachten. Menschen in der Strafjustiz dürfen nicht sozial ausgeschlossen und als Lieblingsfeinde von rechts und links stilisiert werden.

Inwiefern können heutige kriminalpolitische Diskurse von Steinerts Gedanken profitieren?

Der Sammelband richtet sich an SozialarbeiterInnen und erinnert somit an die Notwendigkeit von Utopien, eine Voraussetzung zur Umsetzung einer humaneren Strafpolitik. Um alternative Strukturen zu ermöglichen, ist es wichtig, in der praktischen Arbeit die Fantasie spielen zu lassen. Am Beispiel von Neustart sind Steinerts Thesen ein Aufruf, niemals den Dialog mit den Beschuldigten in den Hintergrund geraten zu lassen. Das Innenministerium verhält sich justiziell konfrontativ mit den Beschuldigten, es geht um Herrschaftsausübung. Neustart als zivile Bewährungshilfe exekutiert nicht den Willen des Staates und ist daher ein freierer Akteur. Dennoch steht die Organisation unter ökonomischen Druck, Beschuldigte in so wenig Zeit wie möglich zu managen, was zu einer Entfremdung des Gegenübers und einer Angleichung an den Status Quo führt.

Was war der Auslöser für den Sammelband und welche Herausforderungen gab es bei der Zusammenstellung der Essays?

Die größte Herausforderung war die Vielzahl an Steinerts Schriften, er äußerte sich umfassend zu allerlei Themengebieten sowie Sozialkontrolle, Kritik am Strafsystem, Populärkultur, Kulturindustrie, Migration und Rechtsstaatlichkeit und zeichnete sich hierbei als leidenschaftlicher Phantast aus. Die Idee zum Band entstand während eines Symposiums in 2021, bei dem für viele Besucher das Interesse an Steinert geweckt wurde. Zu Lebzeiten eckte er im akademischen Umfeld mit seinem radikalen Abolitionismus an.

Um das Gespräch zusammenzufassen, Pilgram bezeichnet Steinert als sprachkreativ, seine Werke als ein Plädoyer für Sozialrecht, als eine Immunisierung gegen moralische Panik und als Aufruf sich nicht der institutionellen Logik unterzuordnen. Pilgrams bevorzugte Werke Steinerts sind diejenigen, bei denen er selbst mitgewirkt hat.

Buchrezension

Im Band wird die Frage nach der Gerechtigkeit aufgeworfen, Steinert schreibt, dass was wir uns wünschen ist keine Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ein unerreichbares Ideal in einer rassistisch und klassizistisch geprägten Gesellschaftsstruktur. Wie Steinert auf einem Graffiti in New York sah: There is no justice. Just us. Was wir uns wünschen, ist die Abwesenheit von Ungerechtigkeit. Steinert argumentiert mit dem liberalen Credo, dass Kriminalpolitik durch eine umfassende Sozialpolitik überfällig wird. Strafrecht kann durch Sozialrecht ersetzt werden. Worin Steinerts umsetzbare Ansätze bestehen, kann im Buch nachgelesen werden. Ein weiterer Teil seiner Philosophie lautet: helfen statt strafen. Prävention und soziale Hilfestellung unmittelbar nach der Entstehung und Meldung eines Konflikts kann eine Eskalation vermeiden.

Der Sammelband ist interessant zusammengestellt und gibt einen einfachen Überblick über Steinerts Lebenswerk. Steinerts Schreibweise ist geprägt von Mitgefühl und gesundem Menschenverstand, was seine Essays lebendig macht. Dennoch ist die Sprache des Bandes relativ komplex und die akademische Fachsprache in späteren Kapiteln des Werks macht Steinerts Thesen ein wenig schwer verständlich. Die Essays im Buch regen dazu an, über den Status quo hinauszudenken und mögliche Wege zu einer besseren, gerechteren Welt aufzuzeigen.

Mich hat besonders die Verbindung von utopischem Denken mit praktischen politischen Ansätzen interessiert, da sie neue Denkanstöße für die Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen gegeben hat. Dennoch ist Utopie das passende Wort für Steinerts Lebenswerk, da es an konkreten Ansätzen mangelt. Die Umsetzbarkeit seiner Vorschläge rückt im heutigen politischen Klima sowieso immer weiter in die Ferne. Steinerts Soziologie und Kriminologie basiert auf Interaktionsprozessen, dem menschlichen Austausch statt dem Studium von leblosen Objekten. Dies können sich politische Entscheidungsträger zu Herzen nehmen, Kriminalpolitik bestimmt Menschenleben. Das Buch ist aus verschiedenen Perspektiven relevant, da es nicht nur die philosophischen Grundlagen von Utopie und Gerechtigkeit behandelt und diese mit der aktuellen gesellschaftlichen Lage verknüpft. In Zeiten wachsender Ungleichheit gibt es Denkanstöße, wie wir soziale Gerechtigkeit realistisch angehen können.

Warum Steinert Kriminologe war, obwohl er die Ansätze der Kriminologie verachtete, und dass der Begriff gefängnislos nicht bedeutet, dass Menschen die Straftaten begehen, einfach „frei herumlaufen”, wird im Buch ausführlich erläutert. Hiermit eine Empfehlung meinerseits für alle, die sich ein humanes Strafrecht, ja sogar ein Sozialrecht wünschen. Für mich hat sich nach der Lektüre dieses Buches, eine Frage, die sich auch Menschenrechtlerin Angela Davis schon gestellt hat, beantwortet. Are prisons obsolete? Sind Gefängnisse längst überholt?

IS THERE JUSTICE? NO – JUST US! (Herausgegeben von Arno Pilgram, Helga Cremer-Schäfer, Jonathan Kufner-Eger und Veronika Reidinger)
Erschienen: 2024 im Löcker Verlag | ISBN: 978-3-99098-204-4 | 212 Seiten | 20,5 x 12,5 cm | Broschur | €19,90

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