Autorin Anne Dittmann im Interview über fürsorgliche Männlichkeit, gesellschaftliche Erwartungen und die Kraft der Beziehung zwischen Mutter und Sohn

Was macht Männlichkeit aus und wie könnte sie in Zukunft aussehen? Die Journalistin und Bestsellerautorin Anne Dittmann stellt in ihrem Buch „Jungs von heute Männer von morgen“ das klassische Rollenbild auf den Prüfstand und wirbt für eine neue Form von Männlichkeit, die auf Fürsorge, Empathie und emotionaler Reife basiert. Im Gespräch erklärt sie, warum „caring masculinities“ kein weichgespültes Konzept, sondern ein radikal gesellschaftsveränderndes ist, und was sie als Mutter eines Sohnes ganz persönlich zum Umdenken brachte.


Frau Dittmann, in Ihrem neuen Buch beschreiben Sie eine neue Form von Männlichkeit, die sogenannte caring masculinity. Was genau bedeutet das?

Caring masculinity, auf Deutsch oft als fürsorgliche oder nachhaltige Männlichkeit übersetzt, ist ein Konzept aus der Männlichkeitsforschung, das sich seit rund zehn Jahren etabliert. Es beschreibt ein Gegenmodell zur tradierten Vorstellung von Männlichkeit, die sich durch Dominanz, Abgrenzung und emotionale Selbstverleugnung definiert. Klassische Männlichkeit ist häufig mit Hierarchie und Kontrolle verbunden, das verursacht nicht nur zwischenmenschliche Spannungen, sondern auch gesellschaftliche Krisen.

Die Idee der caring masculinity setzt stattdessen auf soziale Verantwortung, Empathie, emotionale Ausdrucksfähigkeit und die Bereitschaft, sich um andere zu kümmern, sei es im privaten Umfeld oder gesellschaftlich. Männer sollen nicht immer stark und unangreifbar sein müssen, sondern dürfen sich verletzlich zeigen, zuhören, Fürsorge leisten und Beziehungen gestalten. Das macht sie nicht schwächer, im Gegenteil, es stärkt ihre Resilienz und ihre Beziehungsfähigkeit.

Anne Dittmann, Foto: Birte Filmer

Wie lässt sich ein solcher Wandel praktisch umsetzen, wo müsste man ansetzen?

Wir müssen bei den Jungen anfangen. Viele Jungen lernen von klein auf, dass sie hart sein, nicht weinen und möglichst früh selbstständig sein sollen. Das beginnt im Kleinkindalter mit Sprüchen wie „Jetzt sei mal ein kleiner Mann“ oder „Ein Junge weint nicht“. Diese Rollenzuweisungen wirken subtil, aber sehr nachhaltig. Studien zeigen, dass Männer, die stark auf Selbstständigkeit und Abgrenzung setzen, häufiger Depressionen entwickeln, weil sie sich in Krisen niemandem anvertrauen wollen. Das wird oft als Stärke verkauft, ist aber hochriskant.

Jungen müssen stattdessen lernen, dass Selbstfürsorge erlaubt ist und dass es nicht ihr Job ist, immer der Versorger zu sein. Sie dürfen Gefühle zeigen, Beziehungen leben, sich helfen lassen. Das müssen wir ihnen aktiv vorleben und ermöglichen. Fürsorge ist nicht weiblich, sie ist menschlich.

Warum ist diese neue Männlichkeit nicht längst Standard?

Weil sie gegen viele tief verankerte gesellschaftliche Narrative steht. Die klassischen Rollenbilder sind über Jahrhunderte gewachsen und sie wirken in Sprache, Medien, Erziehung und Arbeitswelt fort. Schon kleine Jungen werden gedrängt, sich abzugrenzen, männlich zu sein. Und Männer, die etwa längere Elternzeit nehmen möchten, erleben oft Unverständnis oder sogar berufliche Nachteile.

Auch ökonomische Argumente werden vorgeschoben. Viele Paare entscheiden sich gegen geteilte Elternzeit, weil er mehr verdient. Aber langfristig bedeutet das oft, dass die Frau dauerhaft in Teilzeit bleibt oder sich sogar ganz aus dem Arbeitsmarkt zurückzieht, mit gravierenden Folgen für finanzielle Sicherheit und Gleichberechtigung. Das ist nicht nachhaltig, weder für Frauen noch für Männer.

Sie schreiben nicht nur als Journalistin, sondern auch als Mutter. Welche Rolle hat Ihr eigener Sohn in Ihrer Auseinandersetzung mit Männlichkeit gespielt?

Als ich erfuhr, dass ich einen Sohn bekomme, war ich zunächst überfordert. Ich hatte mir ein Mädchen gewünscht, nicht aus Ablehnung, sondern weil ich wusste, wie ich ein Mädchen feministisch, unabhängig und selbstbewusst begleiten kann. Für einen Jungen hatte ich keinen Plan, ich wusste nur, was ich nicht wollte, ihn in klassische Geschlechterrollen pressen.

Dann hatte ich einen Traum. Ich sah diesen Jungen, mein Kind, ganz zart, voller Licht, voller Verbindung. Das war der Wendepunkt. Ich erkannte, das Problem ist nicht das Kind, das Problem ist mein Bild von Männlichkeit. Und ich begann, mich darauf einzulassen. Im Alltag wurde mir schnell klar, wie früh die Zuschreibungen beginnen. Er ist doch ein Junge, der kann das schon. Oder er wird zum kleinen Mann erklärt, wenn er weint. Ich musste lernen, ihn davor zu schützen, ihm zu ermöglichen, fürsorglich, verletzlich, liebevoll zu sein, ohne Scham.

Gibt es eine Szene oder ein Moment aus Ihrem Buch, den Sie besonders emotional fanden, vielleicht sogar so sehr, dass er in einem Musical vertanzt werden müsste?

Ja, tatsächlich. Es ist der Traum, den ich am Anfang des Buches beschreibe. Dieser Junge, mein Sohn, wie er mir im Traum begegnet, voller Wärme, ohne jede Härte. Es war ein zutiefst körperliches Gefühl von Verbindung und Geborgenheit. Das war der Moment, in dem sich mein Denken verändert hat. Ich glaube, wenn ich diesen Traum nicht gehabt hätte, wäre mein Weg ein anderer gewesen.

Und dann gibt es dieses Lied von Apsilon, es heißt Baba. Darin rappt er über seinen Vater, über dessen Stärke, die ihn letztlich zerstört hat. Der Sohn sagt, er wünschte, sein Baba wäre schwächer gewesen. Das hat mich sehr berührt. Es zeigt, wie zerstörerisch ein Männlichkeitsideal sein kann, das keine Schwäche kennt.

Was hoffen Sie, für die Jungen von heute, für unsere Gesellschaft in zehn Jahren?

Ich hoffe, dass wir den aktuellen Backlash gegen Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit überwinden. Dass Männer und Frauen erkennen, dass sie sich gegenseitig nicht schwächen, sondern stärken, wenn sie sich auf Augenhöhe begegnen. Dass Fürsorge keine Frauensache mehr ist, sondern als gemeinsame Verantwortung verstanden wird, in der Familie, in der Pflege, in der Politik.

Ich hoffe, dass Jungen mit Puppenwagen auf der Straße kein Thema mehr sind. Dass es normal ist, dass ein Mann zuhört, weint, sich kümmert. Und dass wir nicht länger in männlich und weiblich einteilen, was schlichtweg menschlich ist.


Zur Person:
Anne Dittmann ist Journalistin, Spiegel-Bestsellerautorin und Podcasterin. Sie schreibt unter anderem für ZEIT Online, die Süddeutsche Zeitung und Brigitte. Ihre Schwerpunkte sind feministische Perspektiven, Mutterschaft, Care-Arbeit und Vereinbarkeit. In ihrem Podcast „Solo Moms“ spricht sie mit Expertinnen und Experten über die Lebensrealität alleinerziehender und getrennterziehender Eltern. Anne Dittmann lebt mit ihrem Sohn in Berlin.
Mehr unter: annedittmann.de


Rezension zum Buch

Eine mutige Einladung zum Umdenken

Jungs von heute Männer von morgen
€ 18 | 272 Seiten
Erschienen am: 01.05.2025
ISBN:978-3-466-31231-3
Verlag: Kösel

Anne Dittmann hat ein Buch geschrieben, das lange gefehlt hat. „Jungs von heute Männer von morgen“ ist keine theoretische Abhandlung über Geschlechterrollen, sondern ein persönliches, gleichzeitig kenntnisreich recherchiertes und gesellschaftlich relevantes Plädoyer für eine neue Männlichkeit. Eine Männlichkeit, die Verantwortung, Zärtlichkeit, Reflexionsfähigkeit und Fürsorge nicht als Schwäche, sondern als Stärke versteht.

Dittmann verwebt biografische Erfahrungen mit ihrem Sohn, gesellschaftliche Entwicklungen und aktuelle Forschung aus Soziologie, Pädagogik und kritischer Männlichkeitsforschung zu einem Text, der weit über klassische Elternratgeberliteratur hinausgeht. Sie benennt klar, wo Jungen heute Schaden nehmen, psychisch, sozial und gesundheitlich, weil wir ihnen immer noch beibringen, dass sie durchhalten, funktionieren und gewinnen müssen. Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung ihrer eigenen Erfahrungen, als sie während der Schwangerschaft erfuhr, dass sie einen Sohn erwartet. Nicht aus Ablehnung, sondern aus Orientierungslosigkeit angesichts eines tradierten Männerbildes, dem sie kein alternatives, liebevolles Gegenmodell entgegenzusetzen wusste.

Dieses Buch liefert genau dieses Gegenmodell. Es geht um Selbstfürsorge und Resilienz, um emotionale Bildung, um Sexualität, Konsens und Aufklärung, aber auch um Hausarbeit, Dominanzverzicht und digitale Gewalt. Dittmann spricht über Andrew Tate ebenso wie über Minecraft, über Brotdosenklischees und darüber, warum es für viele Männer immer noch schwer ist, Hilfe anzunehmen oder offen zu weinen. Sie tut das mit analytischer Schärfe, aber auch mit Wärme, Humor und Demut.

Besonders kraftvoll ist ihr Zugang, weil sie keine Feindbilder aufbaut. Dittmann schreibt nicht gegen die Männer, sondern für die Jungen. Auch als Mutter. Sie möchte stärken, nicht entwerten. Ihr feministischer Blick ist kein spaltender, sondern ein verbindender. Das macht ihr Buch so wertvoll. Es lädt ein, sich selbst zu hinterfragen, ohne zu verurteilen. Sie fordert dazu auf, Verbindung über Konfrontation zu stellen und die Beziehungsarbeit an den Söhnen nicht als Zusatzaufgabe, sondern als politische Notwendigkeit zu verstehen.

„Jungs von heute Männer von morgen“ ist ein kluges, berührendes und radikal zärtliches Buch, das Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen, Fachkräfte und politisch Interessierte gleichermaßen zum Nachdenken bringt. Wer es liest, begreift: Gleichstellung ist kein Kampf zwischen den Geschlechtern, sondern ein gemeinsamer Weg zu mehr Menschlichkeit. Und dieser beginnt zu Hause mit offenen Ohren, weichen Herzen und der Bereitschaft, eigene Muster zu hinterfragen.


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