Ein Gespräch mit dem estnischen Strafvollzugsexperten Stanislav Solodov über junge Straftäter, Vertrauen und die Zukunft des Strafvollzugs.

Wie gelingt es, Kinder und Jugendliche vor einem Leben im Strafvollzug zu bewahren? Der estnische Experte Stanislav Solodov hat nicht nur langjährige Erfahrung mit der Resozialisierung junger Straftäter, sondern war auch federführend an mehreren Reformprozessen beteiligt, darunter an der Neuausrichtung des Jugendstrafrechts in Estland und am Aufbau opferorientierter Verfahren. Im Interview mit uns spricht er über Ursachen jugendlicher Delinquenz, die Grenzen von Strafe und warum Vertrauen, nicht Kontrolle, das Fundament echter Veränderung ist.


Herr Solodov, Sie arbeiten daran, junge Menschen davor zu bewahren, in das Strafrechtssystem zu geraten. Was treibt Ihrer Erfahrung nach die Jugendlichen am meisten in die Kriminalität: das Umfeld, die Familie, Gleichaltrige oder persönliche Entscheidungen?

Meiner Erfahrung nach ist es selten nur ein Faktor, meist ist es ein Rucksack an Belastungen. Das soziale Umfeld und Gleichaltrige spielen oft die unmittelbarste Rolle. Aufwachsen in instabilen, oft kriminell geprägten Milieus hat massiven Einfluss auf Entscheidungen. Auch die Familiendynamik, fehlende Unterstützung, Gewalt, Vernachlässigung, wirkt stark. Persönliche Entscheidungen gibt es natürlich, aber sie entstehen oft unter Druck und aus Mangel an Alternativen. Straftaten von Kindern sind meist Gruppendynamiken geschuldet, sie planen selten allein.

Estland gilt als digitaler Vorreiter. Kann Technologie zur Verbrechensverhütung beitragen – oder bleibt Sozialarbeit der Schlüssel?

Technologie kann nützlich sein, aber sie ersetzt keine Beziehung. Junge Menschen brauchen echte Zuwendung, Sicherheit, jemanden, der zuhört. Eine App kann das nicht leisten. Sie kann unterstützen, etwa bei Ängsten oder psychischer Belastung, aber die Veränderung kommt durch menschliche Nähe.

Was ist der größte Fehler, den europäische Justizsysteme im Umgang mit Jugendlichen machen?

Zu schnelle Verurteilung. Statt zuzuhören, zu verstehen und differenziert zu reagieren, wird oft etikettiert. Forschung zeigt: Jugendkriminalität ist meist entwicklungsbedingt. Viele Delikte, etwa Konsum von Alkohol, kleine Diebstähle, Verkehrsverstöße, sind harmlos. Hier braucht es keine harte Reaktion. Bei schweren oder wiederholten Taten hingegen müssen wir achtsam, aber nicht überzogen reagieren.

Sie haben erfolgreiche EU-Projekte zur Resozialisierung durchgeführt. Was war dabei der Schlüsselfaktor?

Zentrale Koordination, eine Person im Ministerium hielt alle Fäden zusammen. Gleichzeitig arbeiteten staatliche und zivilgesellschaftliche Partner eng zusammen. Wir veranstalteten Infoveranstaltungen in Haftanstalten, Schulungen für Fachpersonal und luden auch Richter und Staatsanwälte ein. Der direkte Kontakt mit den Einrichtungen war ein Aha-Erlebnis – und schuf ein gemeinsames Verständnis.

Viele Anstalten sprechen von Rehabilitation, arbeiten aber in einem repressiven Klima. Wie gelingt echte Veränderung hinter Gittern?

Oft passt die Gefängnisstruktur nicht zur Idee von Resozialisierung. Kontrolle steht im Vordergrund. Das führt zu einem Umfeld, das Fehler sucht, statt Chancen. Personal arbeitet mehr mit Akten als mit Menschen. Der erste Schritt wäre: weniger Bürokratie, mehr Gespräche. Vertrauen, Dialog, kleinere Anstalten mit Beziehungssicherheit. Das ist der Weg.

Was sagt es über eine Anstalt aus, wenn es dort regelmäßig Gewalt gibt?

Das sagt viel über das System, nicht nur über die Insassen. Ein chaotisches Gefängnisumfeld weist auf Defizite in Kultur, Organisation und Kommunikation hin. Wenn Personal und Inhaftierte gemeinsam über Veränderungen sprechen, ist das ein guter Anfang.

Könnten kleinere Gefängnisse eine Lösung sein?

Definitiv. Kleinere Einrichtungen ermöglichen Nähe, Beteiligung und Kommunikation. Derzeit sind sie in vielen Ländern noch die Ausnahme, aber es gibt eine Bewegung in diese Richtung.

Sie engagieren sich für opferorientierte Justiz. Kann sie Bestrafung in manchen Fällen ersetzen – etwa bei Jugendlichen?

Ja, in vielen Fällen ist eine strafrechtliche Reaktion überzogen. Seit 2020 praktizieren wir in Estland opferorientierte Verfahren bei Minderjährigen, mit sehr guten Erfahrungen. Auch junge Erwachsene sollen künftig einbezogen werden. Der Fokus liegt auf Wiedergutmachung statt Strafe, wo dies sinnvoll ist. Es geht nicht darum, Strafe abzuschaffen, sondern sinnvoll zu ersetzen, wenn es dem Opfer und der Gesellschaft mehr bringt.

Was verändert junge Menschen mehr: ein Mentor oder eine Strafe?

Ein Mentor. Die Rückfallquote ist bei Haft deutlich höher als bei alternativen Sanktionen. Besonders bei Jugendlichen. Gefängnis sollte immer das letzte Mittel sein. Ein Mentor kann Orientierung geben, gerade in den ersten Wochen nach der Entlassung. Das ist entscheidend.

Was halten Sie von sehr kurzen Haftstrafen für Jugendliche?

Sie bringen kaum Nutzen, verursachen aber oft langfristige Schäden. Estland verfolgt daher den Ansatz: Kinder und Jugendliche nicht in Haft bringen, außer bei schwersten Delikten und wenn alle anderen Mittel versagt haben. Das hat sich bewährt. Die Zahl der jugendlichen Häftlinge ist stark gesunken.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten ein Resozialisierungsprogramm ohne Budgetbeschränkung entwerfen, was wäre zentral?

Es gäbe nicht das ideale Programm – Menschen sind unterschiedlich. Wichtig ist ein vielfältiges Unterstützungsangebot, das individuell gewählt werden kann. Zentral ist ein strukturiertes Angebot, das Werte und Einstellungen verändert. Und vor allem ein Team, das an Veränderung glaubt, auch wenn die betroffene Person das selbst nicht mehr tut.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Wiedereingliederung in Estland?

Viele gute Entwicklungen beruhen auf Projekten, wenn die enden, fehlen Ressourcen und Kontinuität. Zudem mangelt es an systematischer Evaluation: Was wirkt wirklich? Auch neue Herausforderungen wie Radikalisierung und die Auswirkungen sozialer Medien – etwa Cybermobbing – sind Themen, mit denen wir uns noch zu wenig systematisch befassen.


Stanislav Solodov steht für eine andere Form von Justiz: weniger repressiv, mehr beziehungsorientiert. Er zeigt, dass wir jungen Menschen nicht mit Strafe begegnen müssen – sondern mit Verantwortung, Vertrauen und der Bereitschaft, zuzuhören. Sein Blick auf die Praxis ist klar: Wer Wandel will, muss ihn ermöglichen, nicht nur fordern.


Stanislav Solodov ist Experte für Jugendstrafrecht, Wiedereingliederung und opferorientierte Justiz in Estland. Er arbeitete über ein Jahrzehnt im Justizministerium, koordinierte EU-weite Resozialisierungsprojekte und entwickelte alternative Zugänge zum Umgang mit Jugendkriminalität. Als Mediator und Projektentwickler setzt er auf Vernetzung, Verantwortung – und das Prinzip: kein Kind ins Gefängnis, wenn es sich vermeiden lässt.

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