Was, wenn viele psychische Störungen gar keine Störungen im klassischen Sinn sind? Diese provokante Frage stellt die US-amerikanische Ärztin Dr. Alison Escalante in einem Beitrag für Psychology Today. Sie fordert darin nicht weniger als ein radikales Umdenken: Statt Depression, ADHS oder posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) automatisch zu pathologisieren, sollten wir solche Zustände als mögliche, sogar sinnvolle Reaktionen auf Lebensumstände und Umweltfaktoren betrachten. Ein Gedanke, der auch für den österreichischen Straf- und Maßnahmenvollzug weitreichende Folgen hätte.
Zwischen Anpassung und Pathologisierung
Escalantes zentrale These: Viele sogenannte psychische Störungen sind keine „Defekte“, sondern evolutionär sinnvolle Anpassungsstrategien – Reaktionen, die in einem anderen sozialen oder ökologischen Kontext hilfreich gewesen sein könnten. So könnten etwa Aufmerksamkeits- und Aktivitätsmuster, die heute unter ADHS fallen, früher Überlebensvorteile gebracht haben, zum Beispiel bei der Jagd, in unvorhersehbaren Umgebungen oder in Führungsrollen.
Auch Depressionen, könnten weniger als Erkrankung denn als verständliche Reaktionen auf Kontrollverlust, Trauer oder Überforderung gesehen werden. PTBS wiederum spiegle die natürliche Reaktion des Gehirns auf existenzielle Bedrohung wider, nicht notwendigerweise ein pathologischer Defekt, sondern ein Schutzmechanismus.
Kritik am Krankheitsmodell und seine Folgen
Diese Sichtweise ist nicht neu, aber im medizinisch geprägten Mainstream nach wie vor Randposition. Schon Thomas Szasz kritisierte in The Myth of Mental Illness die inflationäre Diagnosepraxis und das fehlende biologische Fundament vieler psychischer Erkrankungen. Auch moderne Klassifikationssysteme wie das HiTOP-Modell rücken zunehmend vom Kategoriendenken ab und plädieren für ein dimensionales Verständnis psychischer Phänomene.
Solche Perspektiven gewinnen an Bedeutung, denn sie stellen die gängige Praxis infrage, Menschen anhand von Diagnosemanualen zu kategorisieren, oftmals mit weitreichenden sozialen, rechtlichen und medizinischen Konsequenzen.
Konsequenzen für den Straf- und Maßnahmenvollzug
Gerade im Maßnahmenvollzug, also in jenem Teil des Strafrechts, der mit psychischen Erkrankungen und abnormen psychischen Zuständen operiert, ist diese Debatte hochrelevant. Denn hier entscheiden psychiatrische Diagnosen über Freiheit und Unterbringung, oft auf unbestimmte Zeit. Wer als „gestört“ oder „krank“ gilt, kann in eine forensisch-psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden, mit schwer kontrollierbaren Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte.
Wenn aber psychische Auffälligkeiten in Wahrheit auf biografische Traumatisierungen, soziale Isolation, Gewalt oder chronischen Stress zurückgehen, stellt sich die Frage: Ist eine forensisch-psychiatrische Maßnahme in diesen Fällen tatsächlich gerechtfertigt? Oder ersetzt hier die medizinische Diagnose eine differenzierte Auseinandersetzung mit den sozialen Ursachen menschlichen Leidens?
Ein Appell für Kontext und Menschlichkeit
Der Beitrag in Psychology Today ist ein Impuls, der auch in der Praxis des österreichischen Maßnahmenvollzugs Gehör finden sollte. Denn eine Justiz, die psychische Phänomene vorschnell pathologisiert, läuft Gefahr, die Ursachen komplexer Verhaltensweisen zu verkennen, und damit auch falsche Entscheidungen zu treffen.
Eine forensisch-psychiatrische Begutachtung darf deshalb nicht allein auf Symptombeschreibungen und Klassifikationen beruhen. Sie muss den Menschen im Kontext seiner Geschichte, seines Umfelds und seiner Erfahrungen sehen. Nur so kann vermieden werden, dass systemische und gesellschaftliche Probleme individualisiert und mit medizinischen Mitteln „behandelt“ werden, obwohl sie nach sozialer, politischer oder therapeutischer Antwort verlangen.

Psychische Störungen sind oft keine individuellen Defekte, sondern Ausdruck sozialer Wirklichkeiten. Wer das anerkennt, verändert nicht nur die Psychiatrie – sondern auch den Straf- und Maßnahmenvollzug.
Dieser Ansatz ist besonders wichtig in Hinblick einer Anlaßtat zu sehen. Bspw. ein Mensch der unter Depressionen leidet wird schwer fähig sein gewisse Straftaten welche eine Einweisung „begründen“ könnten durchzuführen, auch bei PTBS ist dies eher unwahrscheinlich. Bei derzeitiger Gutachter*innen Praxis ist jedoch eine Diagnose „kombinierte Persönlichkeitsstörung“ der Quoten Hit.
Eine meßbare nachvollziehbare und auch nachhaltige Diagnose fehlt dabei häufig.
Eine Risiko Einschätzung findet eher nach emotionalen Empfindungen statt. Dabei gebe es ein besseres System zur Risikoeinschätzung welches auch den Krankheitswert darstellen kann, das nennt sich „FOTRES“ und wurde von Prof. Urbaniok entwickelt, ein Bericht findet sich in einer früheren Ausgabe.