Warum wir eine vernetzte Gesamtstrategie brauchen und welche Rolle die Kriminologie dabei spielt. Gewalt gegen Frauen zählt zu den häufigsten Menschenrechtsverletzungen weltweit. Laut WHO hat rund jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt durch einen Partner erlebt. Diese Gewalt tritt in allen Gesellschaftsschichten, Religionen und Altersgruppen auf, unabhängig von Bildung, Einkommen oder Herkunft.

Diese Gewalt ist kein individuelles Fehlverhalten, sondern Ausdruck tief verankerter gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Sie dient dazu, Frauen einzuschüchtern, zu kontrollieren und in Abhängigkeit zu halten. Wer sie verhindern will, muss Strukturen verändern, nicht nur Symptome bekämpfen.

Die Istanbulkonvention als Verpflichtung und Chance

Das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde 2011 vom Europarat beschlossen. Die sogenannte Istanbulkonvention ist das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument, das Staaten verpflichtet, Gewalt gegen Frauen ganzheitlich zu bekämpfen. Sie verlangt nicht nur Strafen für Täter, sondern auch präventive Maßnahmen, Schutzkonzepte, Opferschutz und Bewusstseinsbildung.

Die unterzeichnenden Staaten, darunter auch Österreich, verpflichten sich dazu, bestehende Strukturen zu überprüfen, interdisziplinär zusammenzuarbeiten und die Gleichstellung von Frauen und Männern aktiv zu fördern. Die Umsetzung muss systematisch erfolgen, die Wirkung messbar sein. Die Konvention betont: Gewalt gegen Frauen ist kein privates Problem, sondern ein strukturelles Versagen.

Interdisziplinarität ist kein Zusatz, sondern Voraussetzung

Die Istanbulkonvention verlangt ausdrücklich einen interdisziplinären Ansatz. Kein Fachbereich allein kann Gewalt gegen Frauen verstehen, erklären oder bekämpfen. Nur im Zusammenwirken verschiedener Perspektiven entstehen wirksame Lösungen.

Die Psychologie analysiert Täterverhalten und Traumafolgen. Die Soziologie untersucht Rollenbilder und Machtverhältnisse. Die Medizin dokumentiert Verletzungen und behandelt psychische Folgen. Die Rechtswissenschaft sorgt für Schutz und Sanktionsmöglichkeiten. Die soziale Arbeit begleitet Betroffene, stabilisiert und vernetzt. Die Linguistik hilft dabei, Missverständnisse zwischen Fachbereichen zu vermeiden. Und die Kriminologie bringt alles zusammen.

Die Rolle der Kriminologie als verbindende Disziplin

Kriminologie ist nicht nur eine Lehre über Straftaten. Sie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die Ursachen, Erscheinungsformen und soziale Reaktionen auf abweichendes Verhalten untersucht. Sie analysiert, wie Gewalt entsteht, welche Bedingungen sie begünstigen und wie sie verhindert werden kann.

Kriminologie ist durch ihre Nähe zu Praxisfeldern besonders geeignet, als Brücke zwischen empirischer Forschung, rechtlicher Umsetzung und politischem Handeln zu fungieren. Sie kann Erkenntnisse anderer Fachrichtungen aufnehmen, zusammenführen und in umfassende Strategien übersetzen. Damit wird sie zu einer Art Koordinatorin im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

Gewalt gegen Frauen ist kein privates Problem, sondern ein strukturelles Versagen.

Österreich zwischen Anspruch und Realität

Österreich hat die Istanbulkonvention 2013 ratifiziert. Die Umsetzung in die Praxis bleibt jedoch teilweise unvollständig. Die Finanzierung von Frauenhäusern und Opferschutzeinrichtungen ist vielerorts prekär. Die Zuständigkeiten sind zersplittert. Der Schutz im Strafverfahren ist häufig unzureichend. Besonders vulnerable Gruppen wie Migrantinnen, Frauen mit Behinderung oder wohnungslose Frauen haben oft erschwerten Zugang zu Schutz und Hilfe.

Die Realität zeigt: Anzeigen werden eingestellt, Gefährdungseinschätzungen sind unsystematisch, Risikofaktoren werden unterschätzt. Immer wieder kommt es zu schwerer oder tödlicher Gewalt trotz polizeibekannter Vorfälle. Die Systeme greifen nicht ineinander, die Verantwortung bleibt diffus.

Was jetzt zu tun ist

Der Schutz vor Gewalt muss verlässlich, flächendeckend und zugänglich für alle sein. Dazu braucht es eine verbindliche Gesamtstrategie. Die Istanbulkonvention gibt den Rahmen vor. Was es braucht, ist eine konsequente Umsetzung.

Notwendig sind unter anderem:

• eine sichere und dauerhafte Finanzierung von Opferschutzstrukturen
• flächendeckende Aus- und Fortbildungen für Polizei, Justiz, Medizin und Sozialberufe
• einheitliche und verlässliche Risikoeinschätzung nach internationalen Standards
• barrierefreier Zugang zu Schutz und Unterstützung für alle betroffenen Frauen
• kriminologische Forschung und Analyse als Basis für politische Entscheidungen

Gewalt verhindern heißt Verantwortung übernehmen

Gewalt gegen Frauen ist kein individuelles Problem. Es ist ein gesellschaftliches Versagen. Ein Staat, der seine Verpflichtung aus der Istanbulkonvention ernst nimmt, muss handeln. Nicht punktuell, nicht reaktiv, sondern strukturell, systematisch und langfristig.

Der Schutz von Frauen vor Gewalt ist ein Gradmesser für Demokratie, Menschenwürde und Gerechtigkeit. Die Kriminologie kann dabei eine zentrale Rolle übernehmen. Sie bringt die nötigen Erkenntnisse, die relevanten Disziplinen und den politischen Anspruch zusammen.

Was zählt, ist die Wirkung im Alltag der Betroffenen. Es geht um Sicherheit, Würde und Gleichstellung. Nicht irgendwann, sondern jetzt.

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