Wenn ein Elternteil inhaftiert wird, stellt dies einen großen Einschnitt im Leben eines Kindes dar. Persönliche Kontakte mit dem Inhaftierten können dem betroffenen Kind helfen, besser mit dieser schwierigen Situation umzugehen. Derzeit gibt es jedoch länderspezifische Hürden, die es Minderjährigen erschweren, ihre Angehörigen im Gefängnis zu besuchen. So mussten sich Kinder und Jugendliche in Estland bis vor kurzem noch einer Leibesvisitation unterziehen, wenn sie einen Elternteil im Gefängnis besuchen wollten. Dies ist inzwischen verboten.

Verbot von Leibesvisitationen an Minderjährigen

Die beharrlichen Bemühungen der estnischen Justizkanzlerin Ülle Madise haben zu einer größeren Akzeptanz der Rechte von Kindern inhaftierter Eltern und darüber hinaus zu erheblichen Verbesserungen in der Praxis geführt. Eine der größten Errungenschaften in diesem Zusammenhang, ist das Verbot der Leibesvisitation von Minderjährigen, die ein inhaftiertes Familienmitglied im Gefängnis besuchen wollen.

Im Zuge einer Leibesvisitation werden die Kleidung oder der Körper einer Person auf verbotene Substanzen und Gegenstände untersucht, wobei sich der/die Betroffene mitunter entkleiden muss. In der Regel wird eine solche Durchsuchung von PolizeibeamtInnen durchgeführt, sie stellt jedoch immer einen Eingriff in die Privatsphäre einer Person dar und muss daher gerechtfertigt sein. Leibesvisitationen können mit Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter bzw. Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) vereinbar sein, sofern sie verhältnismäßig sind und stets unter Achtung der Menschenwürde durchgeführt werden. Darüber hinaus muss ein rechtmäßiger Grund für ihre Vornahme vorliegen. Das Entkleiden durch BeamtInnen ohne bloße Aufforderung stellt beispielweise eine derart eingreifende und potenziell erniedrigende Maßnahme dar, die ohne zwingenden Grund nicht durchgeführt werden darf. Leibesvisitationen sind jedoch häufig zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung einer Haftanstalt und zur Verhinderung von Straftaten erforderlich und können in diesem Zusammenhang durchaus gerechtfertigt sein. 

Die estnischen Strafvollzugsbehörden wurden in der Vergangenheit bereits mehrfach aufgefordert, Leibesvisitationen an Minderjährigen künftig zu unterlassen. Doch erst im Februar 2022 stimmte das Berufungsgericht in Tallinn der Justizkanzlerin zu und bezeichnete die bisherige Praxis als rechtswidrig (siehe Case No. 3-21-161). Die Entscheidung wurde wie folgt begründet: Die Entblößung vor einer fremden Person, noch dazu in einer unbekannten Umgebung, stellt einen erheblichen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen dar. Für Minderjährige ist eine solche Prozedur aber noch weitaus traumatisierender. Schon der Besuch eines nahen Verwandten im Gefängnis ist für sie sehr belastend und schwierig. Eine Leibesvisitation stellt in diesem Zusammenhang einen zusätzlichen Eingriff in die Privatsphäre dar und kann für Minderjährige eine erhebliche psychische Belastung darstellen.

Situation von Minderjährigen mit einem inhaftierten Elternteil

Wenn eine Person straffällig wird, ist nicht nur sie selbst, sondern die gesamte Familie betroffen, denn die Inhaftierung des Partners/der Partnerin oder eines Elternteils geht nicht nur mit einer räumlichen Trennung einher, sondern auch mit sozialer Ausgrenzung, wirtschaftlichen Problemen und psychischer Belastung. Bereits die Verhaftung stellt für alle Beteiligten eine Schocksituation dar, insbesondere wenn sie in Anwesenheit von Familienangehörigen erfolgt. Aus der Perspektive des Kindes ist der inhaftierte Elternteil von einem Moment auf den anderen aus seinem Leben verschwunden, wodurch die Eltern-Kind-Beziehung abrupt unterbrochen wird. Die Ungewissheit über das Leben des inhaftierten Elternteils bereitet den betroffenen Kindern oft große Sorgen, wobei die meisten nicht offen über ihre Ängste sprechen können, da ihnen sonst soziale Ausgrenzung droht. Die größte Belastung ist die Trennung selbst. Daher ist es oft der größte Wunsch der Minderjährigen, regelmäßigen Kontakt zu ihrem Elternteil zu haben und mit ihm gemeinsam alltägliche Dinge zu tun, wie z.B. Bilder malen oder Spiele spielen. Auch ExpertInnen sehen in den Besuchskontakten eine Chance für Kinder, besser mit der Inhaftierung umgehen zu können. Der regelmäßige Kontakt zum Elternteil ist für die Angehörigen wichtig, um Kontinuität und Normalität in der Beziehung zu erleben. Dies setzt jedoch voraus, dass die Umgebung und der Besuch kindgerecht gestaltet sind und auch Körperkontakt zum Elternteil möglich ist. Es steht deshalb außer Frage, ob Besuchskontakte sinnvoll sind, es geht vielmehr darum unter welchen Bedingungen sie zielführend sind. So gibt es in einigen Haftanstalten kindgerechte Räume, in anderen treffen die Kinder ihre Eltern jedoch in den üblichen Besuchsräumen, in denen aufgrund von Glastrennwänden oft kein Körperkontakt möglich ist und somit das Gefühl von Normalität und Geborgenheit völlig in den Hintergrund tritt.

Empfehlungen wurden ignoriert

Trotz des ergangenen Gerichtsurteils aus dem Jahr 2022 wurden in den insgesamt drei estnischen Haftanstalten weiterhin Leibesvisitationen an Kindern und Jugendlichen durchgeführt. In einem aktuellen Bericht (Okt. 2023) zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention kommt die Justizkanzlerin nun zu dem Schluss, dass Minderjährige dieser Praxis nicht mehr unterzogen werden dürfen. Doch damit nicht genug: Im Zuge des Berichts wurden weitere „Missstände“ angeführt, die Minderjährige in ihrem Recht, einen inhaftierten Elternteil im Gefängnis besuchen zu können, einschränken. So wurde vor allem der fehlende Körperkontakt zwischen Vater/Mutter und Kind bemängelt, da die Besuchsräume in estnischen Haftanstalten häufig mit Glastrennwänden ausgestattet sind, die einen direkten Kontakt mit dem Inhaftierten nicht zulassen. Für Langzeitbesuche müssen oft zusätzliche Gebühren entrichtet werden, was regelmäßige Besuchskontakte erheblich erschwert. Die Strafvollzugsbehörden Estlands sind nun aufgefordert, die Empfehlungen der UN-Kinderrechtskonvention zur Unterstützung, Anerkennung und zum Schutz von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil kontinuierlich umzusetzen und zu fördern. So soll es künftig möglich sein, Videotelefonate mit Inhaftierten zu führen, um einen regelmäßigeren Kontakt zu ermöglichen. Darüber hinaus sollen Vollzugsbedienstete gezielt im Umgang mit Kindern und Jugendlichen geschult und kindgerechte Besuchsräume geschaffen werden, die den Minderjährigen während der Besuchskontakte ein Stück Normalität vermitteln. 

Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention

Das Recht des Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen ist in Artikel 9 der UN-Kinderrechtskonvention verankert und muss von den Vertragsstaaten respektiert werden, sofern seine Ausübung nicht dem Kindeswohl widerspricht. Dieses Recht besteht auch im Falle der Inhaftierung eines oder beider Elternteile, auch wenn die praktische Umsetzung dadurch erheblich erschwert wird. Nach Auffassung des UN-Ausschusses sind die Vertragsstaaten verpflichtet, dem Umgang von Kindern und Jugendlichen mit ihren inhaftierten Eltern unter Berücksichtigung des Kindeswohls besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Vorgaben der UN-KRK sehen insbesondere vor, dass bei der Ausgestaltung von Besuchen des inhaftierten Elternteils auch die Perspektive der Minderjährigen, insbesondere ihr Recht auf Aufrechterhaltung der Beziehung zum inhaftierten Elternteil, zu berücksichtigen ist.

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