Die aktuelle Analyse von Lengauer, Mijatović, Ganringer und Gföllner zur rechtlichen und praktischen Grauzone im Anschluss an bedingte Entlassungen aus dem Maßnahmenvollzug gemäß § 21 Abs 1 StGB macht auf ein ernstes Problem aufmerksam, das im Schatten der Maßnahmenrechtsreform 2022 bislang unbeachtet geblieben ist. Ich nehme explizit Bezug auf den unten genannten Beitrag, um die beschriebene Situation für juristische Laien aufzubereiten, kritisch einzuordnen und ihre Folgen für die Betroffenen sichtbar zu machen.

Ein Kommentar zum Beitrag von Lengauer et al. aus der aktuellen Ausgabe des Journal für Strafrecht (JSt) der dieses Thema erstmals ans Licht gebracht hat.

Der Kern des Problems

Wird eine Person aus dem Maßnahmenvollzug bedingt entlassen, geschieht das in aller Regel nach jahrelanger Unterbringung. Die Entlassung ist an strenge Weisungen geknüpft, etwa die verpflichtende Teilnahme an Psychotherapie, die Einnahme von Medikamenten oder das Leben in einer betreuten Wohneinrichtung. Verstößt jemand gegen diese Auflagen, sei es durch aggressives Verhalten, Drogenkonsum oder den Bruch der Hausordnung, kann das zur Kündigung des Wohnplatzes führen. Doch: Was dann?

Eine Rückkehr ins forensisch-therapeutische Zentrum ist rechtlich nicht vorgesehen. Auch eine Übergangseinrichtung, in der kurzfristig Stabilisierung erfolgen könnte, existiert nicht. Die Folge: Menschen, die eben erst in die Gesellschaft zurückgeführt wurden, landen buchstäblich auf der Straße.

Was das für die Betroffenen bedeutet

Für den Einzelnen ist diese Situation dramatisch. Nach Jahren in geschlossenen Einrichtungen wird ihnen erstmals wieder ein Stück Eigenverantwortung übertragen, ein enormer Schritt. Wenn dann erste Schwierigkeiten auftreten, wird das gesamte Setting infrage gestellt. Es kommt nicht zu einer kurzfristigen Korrektur, sondern zu einem völligen Systemzusammenbruch: Der Wohnplatz ist weg, eine Rückkehr in den Maßnahmenvollzug ist erst nach Wochen oder Monaten möglich, wenn überhaupt. In dieser Zeit sind die Betroffenen oft ohne Unterkunft, medizinische Versorgung oder soziale Betreuung.

Es ist keine Übertreibung, hier von institutionell produzierter Obdachlosigkeit zu sprechen.

Verantwortungslosigkeit im System

Das Vorgehen widerspricht nicht nur sozialarbeiterischen Grundprinzipien, sondern ist auch rechtsstaatlich bedenklich. Wer vom Staat untergebracht wird, sei es im Straf- oder Maßnahmenvollzug – bleibt auch nach bedingter Entlassung unter staatlicher Verantwortung. Diese endet nicht mit der Kündigung des Wohnplatzes. Der derzeitige Schwebezustand zwischen Entlassung und Widerruf ist ein gesetzlich ungeregelter Raum, ein „rechtsfreier Zwischenzustand“, wie man sagen könnte.

Ein funktionierender Rechtsstaat muss gewährleisten, dass niemand durch systemische Lücken in die Obdachlosigkeit fällt, schon gar nicht jene, die ohnehin psychisch krank und vulnerabel sind.

Versäumnisse der Gesetzgebung

Der Beitrag zeigt klar: Weder das Strafgesetzbuch noch das Strafvollzugsgesetz bieten derzeit tragfähige Lösungen. Die Widerrufshaft (§ 180 Abs 3 StVG) ist zu eng gefasst und kann nur bei akuter Flucht- oder Tatgefahr verhängt werden, und selbst dann nur für maximal einen Monat. Eine stationäre Krisenintervention ist im Fall der bedingten Entlassung nicht vorgesehen. Auch das Konzept der präventiven Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz (UbG) ist für diese Fälle unpassend.

Ein „Mittelstück“, wie es die AutorInnen nennen, fehlt: Eine gesetzlich geregelte Übergangsstruktur für Krisenfälle, die es erlaubt, Betroffene kurzfristig stabil zu halten, um den Rückweg in die forensische Einrichtung zu vermeiden.

Was jetzt zu tun ist

Es braucht rasch eine gesetzliche Regelung, die den Zeitraum zwischen Weisungsverstoß und möglichem Widerruf der Entlassung überbrückt – ohne Obdachlosigkeit, ohne Bruch der therapeutischen Beziehung und ohne zusätzliche Traumatisierung. Drei Elemente wären notwendig:

  1. Gesetzlich normierte Kriseninterventionen im Anschluss an Weisungsverstöße
  2. Ein Netzwerk an Notwohnplätzen mit therapeutischer Anbindung für bedingt Entlassene
  3. Schnellverfahren zur gerichtlichen Prüfung bei Wohnplatzverlust

Nur durch eine solche Nachbesserung kann vermieden werden, dass Menschen in psychischen Ausnahmesituationen „zurück an den Start“ müssen – zurück in die geschlossene Unterbringung, zurück in die Perspektivlosigkeit.

Denn wer einmal auf der Straße landet, verliert nicht nur seinen Wohnplatz, sondern oft auch das mühsam aufgebaute Vertrauen, in sich selbst, in das System und in die Möglichkeit, wieder Teil der Gesellschaft zu sein.

Menschen & Rechte wird diesen Diskurs weiterverfolgen. Die betroffenen Personen dürfen nicht länger zwischen Gesetzeslücken und institutioneller Verantwortungslosigkeit zerrieben werden. Eine Reform ist nicht nur fachlich geboten, sie ist eine Frage der Menschenwürde!

One Reply to “Zurück an den Start: Wenn der Maßnahmenvollzug in die Obdachlosigkeit führt”

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