Ein Vergleich mit deutschen Leitlinien zum Maßregelvollzug und die Folgen für Therapiequalität, Transparenz, Patientenrechte und Rechtssicherheit
Kein einheitlicher Behandlungsrahmen in Österreich
Der Maßnahmenvollzug, die Unterbringung straffälliger Personen mit psychischen Störungen, steht in Österreich seit Jahren in der Kritik. Insbesondere fehlt es an verbindlichen fachlichen Behandlungsstandards, also konsentierten Leitlinien, die eine einheitliche und evidenzbasierte Behandlung gewährleisten würden. Während es in anderen Bereichen teils detaillierte Vorgaben gibt, existieren für die therapeutische Behandlung im österreichischen Maßnahmenvollzug keine vergleichbaren verbindlichen Standards. So werden Unterbringungsbedingungen und Therapien weitgehend von internen Anstaltskonzepten und individuellen Entscheidungen geprägt, anstatt von übergeordneten fachlichen Leitlinien geleitet zu sein. Dies führt dazu, dass der Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen je nach Einrichtung unterschiedlich aussieht, mitunter stark angelehnt an den klassischen Strafvollzug, ohne genügende Berücksichtigung der speziellen Therapiebedürfnisse dieser Patient:innen. Die Vollzugsverwaltung hat zwar in jüngerer Vergangenheit Ansätze unternommen, gewisse Qualitätsstandards einzuführen, doch selbst das Justizministerium räumt ein, dass der Maßnahmenvollzug trotz Verbesserungen „nicht ausreichend dem Behandlungsbedarf und der besonderen Situation geistig abnormer Rechtsbrecher sowie den Anforderungen des Abstandsgebots Rechnung“ trägt. Es fehlt also weiterhin ein übergreifender konsensualer Rahmen, der festlegt, wie Therapie, Betreuung und Sicherung in diesen Einrichtungen fachgerecht zu erfolgen haben.
Diese Lücke hat gravierende Folgen. Im Gegensatz zu einem durch Leitlinien definierten Vollzug bleibt in Österreich unklar, welche Mindeststandards an Therapieangeboten, Betreuungsschlüsseln oder Rehabilitationsmaßnahmen überall gelten sollen. Dieser Flickenteppich an Ansätzen bedeutet nicht nur potenziell schwankende Behandlungsqualität, sondern erschwert auch die Überprüfbarkeit und Vergleichbarkeit der Einrichtungen. Transparenz und Rechenschaftspflicht leiden, wenn keine klaren Vorgaben existieren, an denen sich Vollzugspraktiken messen lassen. Kritik kommt daher nicht nur von Fachleuten, sondern auch von internationalen Stellen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Österreich bereits zweimal wegen der Situation im Maßnahmenvollzug verurteilt, und der Europarat mahnt eine grundlegende Reform und Modernisierung an. Dies untermauert, wie dringend ein verbindlicher Behandlungsrahmen benötigt wird.
Interdisziplinäre Standards in Deutschland als Vorbild
Einen möglichen Weg, wie solche Leitlinien aussehen könnten, zeigt der Blick nach Deutschland. Dort wurde 2017 unter Federführung der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) ein bundesweit einheitlicher Standardkatalog für den psychiatrischen Maßregelvollzug erarbeitet. Hintergrund war auch in Deutschland die Erkenntnis, dass mangels bundeseinheitlicher Standards die Rahmenbedingungen der Therapie in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich waren. Während für forensische Gutachten (etwa zur Schuldfähigkeit oder Gefährlichkeitsprognose) bereits Mindestanforderungen existierten, fehlten vergleichbare konsentierte Vorgaben für die Behandlung der untergebrachten Patient:innen. Die DGPPN-Task-Force entwickelte daher in einem dreijährigen Prozess interdisziplinäre Standards für Diagnostik, Therapie und Risikobeurteilung in forensischen Kliniken. Dieses Konsensuspapier, veröffentlicht 2017, umfasst rechtliche, ethische, strukturelle, therapeutische und prognostische Leitlinien und soll die Qualität der Behandlung psychisch kranker Straftäter verbessern.
Bemerkenswert ist, dass der Auftrag zu diesen Leitlinien in Deutschland nicht zuletzt aus einer ordnungspolitischen und verfassungsrechtlichen Notwendigkeit entstand. Das Bundesverfassungsgericht hatte betont, dass Eingriffe in die Freiheit im Maßregelvollzug nur soweit wie absolut nötig erfolgen dürfen, also die Maßnahme stets mit so wenigen Freiheitsbeschränkungen wie vertretbar verbunden sein muss. Wissenschaftlich fundierte, bundeseinheitliche Mindeststandards für Unterbringung und Behandlung wurden folglich als „unverzichtbar“ bezeichnet, um diesem Gebot gerecht zu werden. Die deutschen Standards geben den Einrichtungen nun einen klaren Rahmen vor: von Mindestanforderungen an Therapiepläne über Personalqualifikationen bis hin zu Fragen der Risikoabwägung und Ethik. Zwar ist auch in Deutschland die praktische Umsetzung weiterhin eine Herausforderung und föderale Unterschiede bestehen fort, doch dient das DGPPN-Papier als Richtschnur und Referenz für gute Praxis. Eine solche Richtschnur fehlt in Österreich bislang. Zwar wurde hier 2015 eine ExpertInnenkommission eingesetzt und sogar ein Entwurf für ein eigenes Maßnahmenvollzugsgesetz erarbeitet, jedoch ist dieser nie umgesetzt worden. Die Folge: Anders als in Deutschland gibt es in Österreich noch immer keine von der Fachwelt konsentierte Leitlinie, an der sich die Einrichtungen orientieren müssen. Auch ein Maßnahmenvollzugsgesetz fehlt nach wie vor!
Folgen für die Behandlungsqualität
Das Fehlen verbindlicher Standards wirkt sich unmittelbar auf die Qualität der Behandlung aus. In einem Therapiebereich, der so sensibel ist wie der Maßnahmenvollzug, wo psychisch erkrankte Straftäter:innen oft jahre- und jahrzehntelang untergebracht sind, können uneinheitliche oder unzureichende Therapieangebote gravierende Konsequenzen haben. Tatsächlich wird seit langem ein Mangel an Therapieangeboten im österreichischen Maßnahmenvollzug beklagt. Die Einrichtungen verfügen nicht überall über ausreichend qualifiziertes Personal (z.B. PsychiaterInnen, PsychologInnen, ErgotherapeutInnen), und es gibt kein einheitliches Behandlungskonzept, das etwa moderne psychotherapeutische Programme oder Rehabilitationsmaßnahmen flächendeckend vorschreibt. Während manche Anstalten sich bemühen, zeitgemäße Therapieprogramme anzubieten, etwa sozialtherapeutische Ansätze oder modulare Behandlungsprogramme zur Rückfallprävention, bleiben andere eher verwahrend ausgerichtet. Ohne verbindliche Leitlinien besteht die Gefahr, dass veraltete oder inkonsistente Methoden angewandt werden oder dass der Therapieumfang vom Engagement Einzelner abhängt, anstatt von evidenzbasierten Standards.
Diese Unterschiede zeigen sich auch räumlich-institutionell. Österreichs Maßnahmenvollzug findet teils in speziellen forensischen Abteilungen psychiatrischer Krankenhäuser statt (etwa im forensischen Zentrum der Landesnervenklinik Mauer), teils aber auch in haftähnlichen Bereichen von Justizanstalten (z.B. in Wien-Mittersteig oder in der Sonderabteilung der Justizanstalt Stein).
Der Europarat kritisierte, dass die Bedingungen in manchen dieser Gefängniseinrichtungen „karg und haftartig“ seien, mit Zellen, Gittern und sogar bewaffnetem Wachpersonal, was eine sinnvolle therapeutische Behandlung nahezu unmöglich mache.
Im Gegensatz dazu wurde die modernere forensische Klinik in Mauer ausdrücklich gelobt und als Modell für eine bessere Unterbringung genannt. Diese Diskrepanz illustriert, wie uneinheitlich die Qualität der Unterbringung und Therapie derzeit ist. Mit verbindlichen Standards ließe sich ein Mindestmaß an Qualität definieren, dem alle Einrichtungen genügen müssten, beispielsweise hinsichtlich baulicher Gestaltung (therapeutisches Milieu statt Gefängnisatmosphäre) oder bezüglich des Angebots an Therapie und Beschäftigung für die Untergebrachten. Ohne solche Leitlinien bleibt die Qualitätsentwicklung dem Zufall überlassen. Zwar hat die Vollzugsdirektion intern sogenannte Qualitätsstandards erlassen (2017 etwa für den Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 2 StGB), doch handelt es sich dabei um verwaltungsinterne Vorgaben, die weder die Breite eines interdisziplinären Konsenspapiers noch die Transparenz und Verbindlichkeit echter Leitlinien erreichen. Die weiterhin festgestellten Defizite, etwa die zu geringe Therapiedichte und der verwahrende Charakter mancher Abteilungen, zeigen, dass die Behandlungsqualität unter dem Fehlen konsentierter Standards leidet.
Mangelnde Transparenz und Patientenrechte
Ein weiterer Aspekt ist die Transparenz des Systems und die Stellung der Untergebrachten als PatientInnen. Ohne klare Leitlinien bleibt für Außenstehende, seien es Angehörige, Gerichte oder Aufsichtsorgane, oft undurchsichtig, nach welchen Kriterien im Maßnahmenvollzug gearbeitet wird. Welche Therapiefortschritte gelten als ausreichend? Nach welchen Maßstäben wird entschieden, ob jemand entlassungsreif ist? Solche Fragen lassen sich ohne allgemeingültige Standards kaum beantworten. Das erschwert nicht nur die Kontrolle durch unabhängige Instanzen, sondern auch die Selbstbestimmung der Patienten. In einem System mit Leitlinien könnten Betroffene und ihre Rechtsvertretung zumindest nachvollziehen, welche Behandlungsbausteine vorgesehen sind und ob diese im individuellen Fall umgesetzt werden. Derzeit hingegen sind Patientenrechte oft vom Goodwill der Institution abhängig. Beispielsweise ist es noch immer so, dass im Maßnahmenvollzug untergebrachte Personen, anders als psychisch Kranke in zivilrechtlicher Unterbringung, keinen Zugang zu PatientenanwältInnen hatten. Diese unabhängigen Vertreter, die im Regelfall die Rechte von psychisch Kranken im Krankenhaus wahren, stehen MaßnahmepatientInnen nicht zu. Erst auf Druck von Menschenrechtsbeobachtern wurde eine Gesetzesänderung vorbereitet, um auch im Maßnahmenvollzug die Unterstützung durch PatientenanwältInnen zu gewährleisten. Umgesetzt wurde diese allerdings nie. Das zeigt, dass grundlegende Patientenrechte bislang nicht im selben Maße verankert sind wie in anderen Bereichen, was in einem undurchsichtigen System eher unbemerkt bleibt.
Auch die jährlichen Überprüfungen der Unterbringung (§ 25 StGB) werfen ohne verbindliche Standards Transparenzprobleme auf. Zwar sieht das Gesetz jährliche Gerichtskontrollen vor, doch in der Praxis hängt das Ergebnis stark vom (wenn eines erstellt wurde) jeweils vorliegenden psychiatrischen Gutachten ab. Ohne Leitlinien kann die Qualität dieser Gutachten variieren; es fehlen einheitliche Richtlinien, was der Bericht enthalten muss und welche Therapieelemente als Fortschritte gelten. Die Kritik von JuristInnen und ExpertInnen zielt genau hierauf: Oft entscheiden unzureichende Gutachten über weitere Jahre des Freiheitsentzugs. Die Forderung nach Mindeststandards für Befundaufnahme und Prognosegutachten wird laut, um transparent und nachvollziehbar zu machen, woran sich eine „Besserung“ des Patienten eigentlich bemisst. In einem transparent geregelten System wüsste der oder die Untergebrachte, welche Therapieschritte erwartet werden und welche Kriterien erfüllt sein müssen, um eine Entlassungschance zu bekommen. In Österreich hingegen war es in der Vergangenheit nicht selten der Fall, dass PatientInnen ohne klare Perspektive und Information jahrelang verwahrt blieben. Prominent wurde etwa der Fall eines Mannes, der nach Verbüßung seiner Strafhaft fast zwei weitere Jahrzehnte in einer Anstalt saß, ohne dass eine Entlassungsvorbereitung stattfand, teils, weil er selbst die Teilnahme an weiterer Therapie verweigerte. Die Behörden unternahmen keine transparenten Schritte, diese Pattsituation zu lösen, wodurch der Betroffene faktisch unbegrenzt festgehalten wurde. Der EGMR rügte dies scharf: Der Staat hätte einen Weg finden müssen, die Pattstellung zu überwinden, anstatt den Mann auf unbestimmte Zeit ohne Entlassungsperspektive festzuhalten. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie Intransparenz und fehlende Richtlinien unmittelbar zu einer Verletzung von Patientenrechten und menschenrechtlichen Garantien (hier: Art. 5 EMRK, Recht auf Freiheit und Sicherheit) führen können.
Rechtssicherheit und institutionelle Vergleichbarkeit
In einem rechtsstaatlich heiklen Feld wie dem Maßnahmenvollzug ist Rechtssicherheit von hoher Bedeutung, sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft. Rechtssicherheit bedeutet Vorhersehbarkeit und Gleichbehandlung: vergleichbare Fälle sollten vergleichbar behandelt werden. Das Fehlen konsistenter Standards steht dem jedoch entgegen. So kann es vom Zufall abhängen, in welcher Anstalt jemand untergebracht wird und welche Philosophie dort vorherrscht. Die institutionelle Vergleichbarkeit ist damit nicht gegeben. Während in Deutschland durch die DGPPN-Standards zumindest ein gemeinsamer Rahmen definiert wurde, an dem man die Praxis der verschiedenen Bundesländer messen kann, fehlt ein solcher Maßstab in Österreich. Ein Beispiel: In einer Einrichtung mag es üblich sein, dass nach einigen stabilen Jahren mit Therapie Lockerungen und Ausgänge gewährt werden; woanders herrscht vielleicht eine restriktivere Linie, die selbst bei guten Führungsnachweisen kaum Vollzugslockerungen zulässt. Ohne allgemeine Leitlinie, was als good practice gilt, lassen sich solche Unterschiede kaum angreifen. Rechtsunsicherheit entsteht auch für Gerichte und Sachverständige: Sollen sie jemanden entlassen, wenn zwar keine Therapie erfolgte, aber auch keine Gefahr erkennbar ist? Oder gilt ein striktes Prinzip
„ohne Behandlung keine Entlassung“?
Solche Grundsatzfragen könnten Leitlinien beantworten oder zumindest vereinheitlichen. Stattdessen müssen Gerichte im Einzelfall entscheiden, was die Gefahr birgt, dass Entscheidungen inkonsistent ausfallen. Die Oppositionspolitikerin Selma Yildirim brachte es 2022 auf den Punkt, als sie feststellte, an der aktuellen Problemlage ändere sich nichts, solange es an entsprechend ausgestatteten forensisch-therapeutischen Zentren fehlt, sprich: solange der Vollzug nicht auf eine einheitlich moderne Basis gestellt wird.
Für die Betroffenen bedeutet fehlende Rechtssicherheit oft eine unbestimmte Perspektive. Sie wissen nicht, ob und wann sie unter fairen, nachvollziehbaren Bedingungen mit einer Entlassung rechnen können. Das österreichische System erlaubte es bislang, Menschen auf unbestimmte Zeit festzuhalten, sofern jährlich ein Gericht die Fortdauer bestätigt. Zwar ist diese jährliche Prüfung ein rechtsstaatliches Minimum, doch die EGMR-Urteile zeigen, dass dies allein nicht ausreicht, wenn die inhaltlichen Kriterien unklar bleiben. Im Urteil Lorenz v. Austria kritisierte der EGMR, dass der Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Verurteilung und dem weiteren Freiheitsentzug sich irgendwann verliert, wenn keine sinnvolle Therapie und Vorbereitung auf die Freiheit erfolgt. Rechtssicherheit erfordert hier, dass die Maßnahme nicht zum lebenslangen Ungewissheitszustand wird, sondern an Bedingungen und Standards geknüpft ist, die der oder die Untergebrachte auch erfüllen kann. Einheitliche Behandlungsleitlinien könnten dazu beitragen, klare Kriterien für Fortschritte und für Gefährlichkeitsbewertungen festzulegen, was sowohl Gerichten als auch GutachterInnen ein stabileres Fundament gäbe. Ebenso würde einheitliche Dokumentation (z.B. standardisierte Therapiepläne und Fortschrittsberichte) den gerichtlichen Überprüfungen mehr Substanz und Vergleichbarkeit verleihen.
Auch aus administrativer Sicht wäre die Vergleichbarkeit ein Gewinn: Der Erfolg verschiedener Einrichtungen ließe sich anhand gleicher Maßstäbe evaluieren. Derzeit fehlen jedoch Benchmark-Daten – etwa zur Rückfallrate nach Entlassungen in Relation zum Therapieangebot, weil das System heterogen ist. Der Rechnungshof monierte wiederholt, dass ohne einheitliche Standards weder der Personalbedarf noch die Zielerreichung im Maßnahmenvollzug richtig gesteuert und beurteilt werden können. Einheitliche Leitlinien könnten hier Abhilfe schaffen, indem sie einen Referenzrahmen bilden, der sowohl intern (für die Verwaltung) als auch extern (für Kontrolle und Gesetzgebung) Klarheit schafft.
Ethische und menschenrechtliche Aspekte
Letztlich berührt die Frage nach verbindlichen Behandlungsstandards im Maßnahmenvollzug zutiefst ethische und menschenrechtliche Dimensionen. Es geht um das Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Sicherheit und den Rechten kranker StraftäterInnen. Ethisch geboten ist, dass auch Personen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung Straftaten begangen haben, mit Würde und mit einer Perspektive behandelt werden. Eine Volksvertreterin brachte im Parlament die menschenrechtliche Dimension auf den Nenner: Es gehe darum,
„Menschen nicht einfach wegzusperren, sondern ihnen trotz Erkrankung ein Leben zu ermöglichen“.
Genau das verlangt Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, sowie die UN-Behindertenrechtskonvention, die die Gleichbehandlung und bestmögliche Förderung psychisch kranker Menschen fordert. Wenn aber im Maßnahmenvollzug keine einheitlichen Standards existieren, läuft man Gefahr, dass manche Betroffene faktisch nur verwahrt werden, ohne eine echte Chance auf Besserung und Entlassung. Dies stellt nicht nur die Effektivität, sondern auch die ethische Legitimation des Systems infrage. Ein Maßregelvollzug ohne ausreichende Therapie ist kaum mehr als eine verlängerte Sicherungsverwahrung, ein Zustand, den der EGMR in mehreren Entscheidungen als problematisch bezeichnet hat.
Verbindliche Leitlinien könnten hier als ethischer Kompass fungieren. Indem sie festschreiben, dass jede Unterbringung auch einen Behandlungsauftrag hat und dass gewisse Therapien und Resozialisierungsmaßnahmen zwingend anzubieten sind, würde das System seinem Anspruch näherkommen, Besserung und Sicherung gleichermaßen zu dienen. Aktuell hingegen hat selbst die Justizministerin Alma Zadić einräumen müssen, dass jahrzehntelanger Reformstillstand zu schwerwiegenden Defiziten geführt hat. Die Reformschritte, die nun eingeleitet wurden (z.B. höhere Hürden für die Einweisung, spezifischere Diagnostik-Kriterien, Umbenennung der Anstalten in „forensisch-therapeutische Zentren“), sind positive Signale, ändern aber nichts daran, dass der Kern – eine konsentierte Behandlungsstrategie – noch fehlt. Ethisch verlangt die Fürsorgepflicht des Staates, dass er nicht nur einschließt, sondern auch behandelt. Menschenrechtlich ist Österreich verpflichtet, die Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung zu wahren: Diese darf kein Selbstzweck sein, sondern muss an Fortschritte und Therapiezielen orientiert werden. Ohne verbindliche Standards droht die Gefahr, dass dieses Ziel aus dem Blick gerät.
Zudem hat die rechtsstaatliche Fairness eine ethische Komponente: Die Betroffenen müssen das Verfahren als gerecht empfinden können. Wenn zwei Patienten mit vergleichbarer Diagnose und Tat in unterschiedlichen Bundesländern vollkommen unterschiedlich lange und unter unterschiedlichen Bedingungen festgehalten werden, ist dies schwer mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar – ein Umstand, der in Deutschland durch die Leitlinien zumindest gemildert werden soll, in Österreich jedoch weiterhin für Unmut sorgt. Auch innerhalb von Österreich haben Expert:innen schon vor Jahren gefordert, den Maßnahmenvollzug auf moderne, evidence-basierte Beine zu stellen, um Willkür und regionale Disparitäten zu beseitigen. Bis solche Leitlinien etabliert sind, bleibt ein ethisches Dilemma bestehen: Man verlangt von psychisch kranken StraftäterInnen, an sich zu arbeiten und sich zu bessern, gibt ihnen aber nicht flächendeckend die selben Mittel und Möglichkeiten dazu.
Der österreichische Maßnahmenvollzug steht an einem Scheideweg. Ohne verbindliche fachliche Behandlungsstandards droht er hinter modernen menschenrechtskonformen Ansprüchen zurückzubleiben. Der kritische Vergleich mit Deutschland zeigt, dass es durchaus Wege gibt, Leitlinien zu entwickeln, die Qualität und Transparenz fördern. Die Auswirkungen des derzeitigen Mangels an konsentierten Vorgaben sind in Österreich auf mehreren Ebenen spürbar: in der ungleichen Behandlungsqualität, in der fehlenden Transparenz und Rechtsklarheit, in der Schwächung von Patientenrechten und letztlich in ethischen Spannungsfragen. Eine Reform, die diesen Namen verdient, muss daher mehr leisten, als nur juristische Einweisungsregeln zu ändern. Sie muss einen konsentierten Behandlungsrahmen schaffen, im Idealfall in Form interdisziplinärer Leitlinien, die von Expert:innen getragen und politisch verankert sind. Nur so lässt sich langfristig gewährleisten, dass der Maßnahmenvollzug seinem Doppelauftrag gerecht wird: der Sicherung der Allgemeinheit und der bestmöglichen Therapie der Untergebrachten, im Geiste von Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Menschlichkeit.
Quellen: Der Kommentar stützt sich auf aktuelle Berichte und Fachpublikationen, darunter die DGPPN-Pressemitteilung zu den deutschen Maßregelvollzugs-Standards, parlamentarische Dokumente und Debatten in Österreich, Feststellungen des EGMR und des Europarats (CPT) sowie Berichte der Volksanwaltschaft und des Rechnungshofs, welche die beschriebenen Defizite und Reformbedarfe untermauern.