Ein Gespräch mit der Autorin Barbara Rieger zu Ihrem neuen Buch „Eskalationsstufen“.

Wie kommen Sie zu dem Thema der Gewalteskalation? Gibt es irgendeinen Impuls?

In meinem Umfeld gibt es viele Geschichten, bei denen es zwar nicht bis zum Femizid(versuch) eskaliert ist, aber es gibt diese Ansätze. Toxische Beziehungen scheinen verbreitet zu sein. Und die Medienberichterstattung über Femizide hat mich sehr betroffen gemacht. So habe ich angefangen, mich mit diesem Thema mehr zu beschäftigen, mich einzulesen, zu recherchieren.

Ich hab mich beim Lesen gefragt, warum geht die Frau nicht aus dieser Beziehung? Ist es die Angst vor der Leere, wenn die Beziehungsfäden nirgendwo mehr anknüpfen können?

Ja, das spielt sicherlich eine Rolle, denke ich. Dieses generelle Streben nach einer Beziehung, das ist, denke ich, gerade bei Frauen noch immer sehr stark. Das lernen wir ja auch von klein auf. Wenn Sie an Kinderbücher denken, an Märchen, an  Disney-Filme, da gibt es immer dieses Narrativ. Das Happy End ist das Finden oder das Zusammenkommen mit einem Partner, mit einem Prinzen quasi. Das ist sehr stark in unserer Kultur verankert. Ich glaube auch, dass das eigentlich inhärent dem Patriarchat ist. Es muss ja den Frauen irgendetwas erzählt werden. So funktioniert das patriarchale Gefüge: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben und lieben sie noch heute. Nur eigentlich beginnt dann ja erst die Geschichte. Nach dem Happy End. Die wahre Geschichte, wie es weiter geht, wird selten erzählt. Was ist dann? Was schaut dieses Happily Ever After aus?

Autorin Barbara Rieger (Foto: Alain Barbero)

Wie erleben Sie die Gesellschaft gegenüber alleinstehenden Frauen?

Es kommt darauf an, wo man als Frau lebt. Ich denke, dass es in der Stadt leichter ist, weil es hier mehr Diversität der Lebensformen gibt. Und dass es zum Beispiel in einer Kleinstadt oder in dörflichen Strukturen schwieriger ist, weil es eben noch immer die Norm ist, diese Paarbeziehung, diese Familie. Andere Lebensmodelle werden zwar offiziell akzeptiert (zumindest von weiten Teilen der Gesellschaft), aber die heterosexuelle Paarbeziehung und Familie sind eben als Norm in den Frauen drinnen. Ich habe viele Freundinnen, die in meinem Alter Single sind. Sie stellen sich die Frage, ob sie noch ein Kind bekommen können oder nicht, oder werden oder nicht, oder möchten oder nicht. Und es ist ein großer Druck, von innen, der natürlich aber auch von außen kommt. Aber wie gesagt, ich glaube, es hängt sehr viel ab von der Umgebung, von den Möglichkeiten, die ich habe, von den Freundinnen, die ich habe. Es sollten einfach Beziehungen möglich sein, wo eben unterschiedliche Lebensformen nebeneinander existieren können. Ich persönlich möchte jedenfalls gerne mit Leuten befreundet sein oder zu tun haben oder mich austauschen, die anders leben als ich selbst.

Was gehört für Sie zu einer gelingenden Beziehung von Mann und Frau? Bleiben wir mal bei Hetero.

Interesse, Respekt, auch Spaß. Und auch Vertrauen, Stabilität.

Was für Voraussetzungen müssen Frauen mitbringen, also welche Qualitäten, müssen sie mitbringen, um relativ bald eine Gewalt wahrzunehmen oder zu durchschauen, was da läuft und sich dann auch zu lösen?

Ich habe viel Fachliteratur dazu gelesen, zum Beispiel Yvonne Wiedler „Heimat bist du toter Töchter“. Es kann ja im Prinzip jeder Frau passieren, dass sie sich in jemanden wie Joe verliebt. Aber je größer der eigene Selbstwert ist, desto früher werden die Frauen aus dieser Beziehung wieder gehen. Selbstwert ist das eine. Das andere sind soziale Möglichkeiten, was sie mitbringen an Ressourcen. Finanzielle Abhängigkeit, zum Beispiel, auch Abhängigkeiten den Aufenthaltsstatus betreffend machen es schwerer zu gehen. Je abhängiger ich bin, desto schwieriger ist es, wieder zu gehen. Das sind einerseits diese strukturellen Geschichten, aber das Innere spielt eben auch eine Rolle. Und da denke ich, kommt auch die Kindheit zum Tragen, die ich in meinem Buch auch so ein bisschen andeute. Wenn ich in der Kindheit erfahre, lerne, mitbekomme, dass ich wertvoll bin, dass ich geliebt werde, dann werde ich nicht diese Liebe suchen, die ich nie bekomme. Davon bin ich überzeugt und das wird auch in Forschungen zu dem Thema auch bestätigt.

Damit habe ich jetzt ein bisschen meine Schwierigkeiten. Da habe ich Sorge, dass es zu deterministisch verstanden wird.

Nein, das möchte ich auch nicht deterministisch verstehen im Sinne von, wenn das so ist, dann… Wenn das nicht so ist, dann… Aber es gibt eine gewisse Tendenz. Es gibt Faktoren, die unterstützen, aber… Wenn die nicht da sind … kann dennoch eine innere Stärke vorhanden sind.

Es gibt, glaube ich, ganz viele Familien und Kinder, die diese Bedingungen nicht haben, aus einer Menge Gründen. Alle meine Damen, die ich im Gefängnis kennengelernt habe, kamen nicht aus behüteten, stabilen Verhältnissen.

Nein, das meine ich gar nicht, so eine prototypische Idealfamilie, wie man sie aus der Werbung nur kennt. Es muss auch gar nicht die Familie sein. Aber es muss irgendwo die Möglichkeit sein, die innere Stärke zu lernen, zu erfahren. Das kann zum Beispiel auch durch Therapie sein. Oder eine Vertrauensperson in einem außerfamiliären Kontext. Wenn Sie jemanden haben, die sie stützt oder ihnen hilft, dann kann das wichtig sein. Wenn ich aber niemanden habe und dieses Gefühl von klein auf erlernt habe, ich bin sowieso nichts wert, dann bin ich schon anfälliger, denke ich, für Narzissten. Das ist meine Meinung.

Und das kann man auch aus der idealtypischen Familie mitbringen. Wenn die so einen Leistungsdruck aufbauen, du musst unbedingt Universitätsprofessor werden.

Genau.

Wie müsste die Frühpädagogik mit kleinen Buben arbeiten, Ihrer Meinung nach? Ich weiß, Sie sind keine Elementarpädagogin, aber trotzdem hat man ja so seine Ideen. Und wie müsste sie mit kleinen Mädchen nach ihrer Idee arbeiten?

Aus meinem Bauch heraus würde ich sagen: Eigentlich gleich. Vielleicht wäre das ein Ansatz. Ich weiß es nicht. Mein Kind ist im Kindergarten und ich beobachte, wie plötzlich die Buben so werden und die Mädchen so werden. Da passiert irgendetwas. Ich frage mich, was da eigentlich passiert. Wahrscheinlich entwickelt sich dort auch viel von der geschlechtlichen Identität. Es wird gesellschaftlich noch immer viel vorgegeben durch rosa, blau, Einhorn, Bagger und so weiter.

Wie erleben Sie die Mütter?

Relativ offen. Ich bin halt auch in meiner Blase. Meine Tochter liebt Rosa und Glitzer und Einhorn und ich denke mir, okay, sie liebt das eben.

BP: Wo spielt Ihre Tochter? In der Bauecke oder in der Puppenecke?

Vom Kindergarten weiß ich es leider wenig. Meine Tochter ist in einer Gruppe, wo sehr wenig Mädchen sind und viele Burschen. Da kann ich jetzt was dazu sagen. In dieser Gruppe, spielen sie Rollenspiele, wo sie Tiere sind. Jeder ist irgendein Tier. Und in einer anderen Gruppe sind sehr viele gleichaltrige  Mädchen, die spielen immer Vater, Mutter, Kind. Und jedes Mädchen möchte die Mutter sein. Das geht nicht. Dann sind alle die große Schwester. Spannend, oder?

Das ist eine Frage, die mich auch sehr beschäftigt. Ich werde auch in Zukunft dazu recherchieren und arbeiten. Weil ich denke, hier kann man schon Impulse setzen. Ja, auch die Frage der Aggression oder Gewalt ist natürlich ein Thema. In der Krabbelstube und im Kindergarten. Wenn den Kindern alles zu viel wird, dann schlagen sie manchmal zu. Manche Kinder sind sehr wild. Die haben das Bedürfnis, Geräusche zu machen, zu klopfen, wo drauf zu schlagen. Und bei Burschen sagen dann die Leute, auch die Mütter, naja, es ist halt ein Bub.

Und selbst die Mütter, die das auch kritisch hinterfragen, die sagen dann, ich wollte das nie so sehen, aber es ist vielleicht doch so. Es ist irgendwie drinnen in… in Buben. Ist es das? Ich weiß es nicht.

Ich habe viele Jahre unterrichtet, Im Gymnasium. Als Lehrerin waren mir die pubertierenden Buben angenehmer als die pubertierenden Mädchen. Dieser ewige Zickenkrieg, ich kann es nicht anders nennen. Ich habe vier Enkelbuben und zwei Enkeltöchter. Die Buben waren immer irgendwie leichter zu behandeln für mich, in ihrer direkten Art, als die Mädels. Was jetzt, wo sie erwachsen sind, völlig anders ist. Aber da gibt es schon eine Phase, wo man sagen muss, diese Direktheit bei den Buben ist angenehmer. Nur, der Joe ist ja nicht direkt. Der ist ja sowas von manipulativ indirekt. Wie kommt der Joe zu seiner Art?

Er hat etwas diabolisches für mich. So habe ich ihn konzipiert.

Und wie er so geworden ist… Er ist auch als Baby nicht so auf die Welt gekommen?

Nein, sicher nicht.

Wo hat er seine Art her?

Ja, das wäre ein weiteres Buch.

Bei der Julia kann man so ein bisschen nachvollziehen. Aber er ist so eine Blackbox.

Ja, dann müsste ich ein neues Buch schreiben. Ich denke jetzt zum Beispiel an die Geschichte von Harry Potter. Wie ist Voldemort zu Voldemort geworden? Ein Prequel. Genau.

Genau, … er war ein Halbblut und ist deswegen gemobbt worden. Ja, und er war dann eben auch in einem Waisenhaus. Und ist dort auch gemobbt worden, weil er nicht reinrassig war. Das heißt, es geht eigentlich um Ohnmachtserfahrungen. Macht und Ohnmacht, ja. Joe ist kein klassischer Sexualstraftäter.

Ich habe auch dieses Buch von Jack Unterweger gelesen, das er selber geschrieben hat: „Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus.“ Literarisch kein Highlight, aber interessant, als Recherche. Die ganze Geschichte von Jack Unterweger.

Geht es um Macht?

Macht und Ohnmacht. Ich glaube es geht um Macht und Ohnmacht. Eigentlich müssten wir lernen mit Macht und mit Ohnmacht deklarierter umzugehen, denn jeder hat Macht. Und jeder ist ohnmächtig. Und gerade in der Kindheit geht es ja auch viel um Macht und Ohnmacht, eigentlich um die Autonomie. Um das was ich kann und wie ich über mich bestimme. Wie weit. Und wo ist der andere. Wer bin ich als Frau? Das geht mit zwei Jahren los.

Vielen Dank für das Gespräch. Ich bin gespannt auf Ihr nächstes Buch.


Barbara Rieger (2024): Eskalationsstufen

Schmetterlinge im Bauch. Rosarote Wolken. Julia, die Ich Erzählerin trifft Joe, der sie mit allen ihm zur Verfügung stehende Mitteln umwirbt. Wie staubtrocken wirkt im Vergleich ihr aktueller Partner David, mit dem sie zusammen lebt. Wie abgestanden fühlt sich diese Beziehung an. Eine offene Beziehung solle es sein, haben sie vereinbart.

Julia, ein Landkind, das es in die Stadt verschlagen hat. Die restliche Familie, der Familien Rest lebt nach wie vor auf dem Bauernhof, der dem Großvater gehört. Hier ist Julia von der alleinerziehenden Mutter abgegeben worden. Vom Großvater, dem gestandenen Bauern, hat sie das zeichnerische Talent geerbt. Das Sterben des Großvaters nimmt ihr das Heimatgefühl, das sie mit diesem Ort verbindet.

Sie beginnt ein Verhältnis mit Joe. Als David dahinter kommt, wirft er sie aus der gemeinsamen Wohnung. Offene Beziehung hin oder her. Sie zieht mit wenigen Habseligkeiten bei Joe ein, der nicht nur hobbymäßig sondern professioneller Maler ist und sogar auf der Universität immer mal wieder unterrichtet.

Mit der Zeit wandelt sich das Verhalten von Joe. Nicht Eskalationsstufen sind es sondern stufenlose Eskalation. Kleinigkeiten. Nach zu viel Alkohol oder im Stress. Ansprüche an sie. Kurze Episoden der unbegründeten Eifersucht. Dann wieder überbordende Zärtlichkeit. Und da sind dann auch noch die Sujets seiner Bilder, die Gänsehaut erzeugen.

Die einzelnen Szenen sind drehbuchartig geschrieben. In kurzen Sätzen, die auch manchmal enden, bevor sie ganz zu Ende sind. Unwillkürlich denke ich sie dann zu Ende. Wie ein Film läuft die Geschichte in meinem Kopf ab.

Früh stellt sich bei mir als Zuseherin leises Unbehagen ein. „Es reicht“, möchte ich Julia zurufen. Merkst du denn nicht, was hier läuft. Später dann: „Renn Mädel, renn so schnell du kannst.“ Ein Aufatmen, wenn sie es auch bemerkt. Und dann, wieder und wieder lässt sie sich auf ihn ein, weil er sie perfekt manipuliert und sie nicht von ihm los kommt.

Fiktiv ist die Geschichte heißt es im Nachwort. Alles frei erfunden. Mag sein. Und dennoch erinnert es mich an Frauen, die ich getroffen habe, die mir von den klitzekleinen Kleinigkeiten erzählt haben, wie es angefangen hat. Und wie es immer weiter gegangen ist. Und sie haben es nicht oder erst sehr spät geschafft, zu gehen. Denn da war etwas, was sie gehalten hat. Da war etwas, was sie zurück kommen hat lassen, wenn sie schon die ersten Schritte weg von ihm gewagt haben. Und da sind auch die Frauen, die es nicht geschafft haben, bis es zu spät war.

Ein Buch, das nicht nur Frauen als Warnung lesen sollten. Sondern vor allem auch Männer, so sie Gewalt gegen Frauen ablehnen. Denn um diese frühzeitig zu erkennen, muss man auch die Kleinigkeiten ernst nehmen. Seien sie auch noch so klitzeklein.

One Reply to “„Die Medienberichterstattung über Femizide hat mich sehr betroffen gemacht!“”

  1. „Wie müsste die Frühpädagogik mit kleinen Buben arbeiten, Ihrer Meinung nach?“

    Vorweg ich bin leider kein Vater.
    Mir fällt auf das in Sachen Buben Arbeit wenig männlich professionelles Handeln gibt.
    Im Bereich Elementarpädagogik gibt es so gut wie kein männliches Personal, trotz immer mehr Alleinerzieherinnen. Mütter haben soviele Rollen zu erfüllen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfüllbar sind, bzw. über Kurz oder Lang sogar zu Überforderungen führen müssen.
    Erst wenn Buben in einen Sportverein gehen dürfen, beginnt dann ein männlich dominierter Bereich der Entwicklungsarbeit, allerdings meinst nur Leistung’s und Dominanz, Gewinn orientiert.
    Also wieder wenig Gewalt und Konflikt frei.

    Ich finde die Trennung ist nicht mehr zeitgemäss, warum gibt es keine Gemischten Fußball Teams, keine Eishockey Teams, keine Basketball Team’s und ähnliches. Vielleicht könnte hierbei der dem Fairplay entsprechende Körper betonte jedoch gewaltfreie Umgang, zwischen den Geschlechtern gelernt werden.
    Auch gibt es gezielt eingesetzt bspw. so genannte „Lachyoga“ Kurse, warum aber kein gemeinsames *ich weine jetzt Mal Yoga* für Buben und Mädchen?

    Es geht eigendlich um frühkindliche Gefühlsarbeit.

    Motto:
    Lerne ich früh für Empathie und Gewaltlosigkeit belohnt zu werden, sowie meine Gefühle werden nicht nach rosa oder blau bewertet, sondern als das was sie eben sind, nämlich Geschlechter Neutral, dann können Buben lernen, es ist absolut cool wenn ich nicht schlage oder andere Gewalt anwende, und das weder gegen Frau noch Mann.
    Wir als Gesellschaft, vorallem Männer, können mithelfen ein Vorbild zu sein.

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