Nachdem wir bereits vor einiger Zeit ein Interview mit dem Psychiater Frank Urbaniok zu forensisch-psychiatrischen Gutachten publiziert haben, und danach eine Veranstaltung dazu in Wien abgehalten wurde, widmet sich nun der langjährige Gerichtspsychiater Pius Prosenz dem System FOTRES und Möglichkeiten der Verwendung in Österreich.

Der Schweizer forensische Psychiater Professor Dr. Frank Urbaniok hat ein komplexes Konstrukt für die Diagnostik, Risikobeurteilung und das Risikomanagement bei Straftätern entwickelt, das er „Forensisches Operationalisiertes Therapie – Risiko –Evaluations- System“ genannt hat, abgekürzt „FOTRES“. Es wird vor allem von Gutachtern und Therapeuten in Deutschland und der Schweiz verwendet, die in Kliniken und Justizanstalten sowie in der eigenen Praxis  tätig sind und hat sich offensichtlich im klinischen Gebrauch sowie im Alltag des Maßnahmenvollzugs bewährt. Es hat auch Kritik und Widerspruch hervorgerufen. Reaktionen, auf die jetzt nicht näher eingegangen werden soll.

Psychiater Frank Urbaniok

Der Kopf hinter dem System, Professor Frank Urbaniok, eine Koryphäe im Bereich der forensischen Psychiatrie im deutschen Sprachraum, hat in mehreren Kontakten, Diskussionen und Veranstaltungen in Österreich das System FOTRES bekannt gemacht und zur Erprobung zur Verfügung gestellt. Dies in Form des Handbuches FOTRES; Diagnostik, Risikobeurteilung und Risikomanagement bei Straftätern, 4. Aufl. 642 Seiten, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2021, sowie in Form der EDV – Version, mithilfe derer der ganze Prozess der Dokumentation und Auswertung der FOTRES-Untersuchung problemlos und schnell durchgeführt werden kann. Dieser Prozess benötigt, nach Angabe von Geübten, 45 – 60 Minuten. Die EDV-Version samt Verrechnung mittels des FOTRES-Algorithmus auf einem in Deutschland stehenden Server soll um einen Lizenzbetrag von 600 Euro zu beziehen sein.

FOTRES stellt kein aufgeblasenes Testinstrument und kein Diagnosemanual dar, sondern erfindet die forensische Psychiatrie neu. FOTRES anhand des umfangreichen, fünf Kilo schweren, Handbuches und anhand der EDV-Version zu betreten und zu begreifen, bedarf starker Motivation, Neuland zu betreten und altes Gebiet, von dem man aus verschiedenen Gründen nachhaltig frustriert ist, zu verlassen. Man muss dazu die gewohnte Diagnostik nach ICD-10 bzw. ICD-11 und DSM 5 nicht verlassen bzw. aufgeben, aber doch erkennen und anerkennen, dass es, angesichts einer steckengebliebenen, teilweise inhumanen und nur mehr mit sich selbst beschäftigten Forensik in Österreich, Verbesserungsschritte in der forensischen Psychiatrie braucht und dass FOTRES einen solchen Schritt bringen kann. Freilich bedarf es der Überlegung, in welcher Form und welchem Ausmaß FOTRES den Bedarf in Österreich an gerichtspsychiatrischen Beurteilungen besser als die bisherige Realität im Gerichtssaal zu decken vermag.

FOTRES erfindet also die forensische Psychiatrie neu und erhebt als gewaltiges Ideen– und Wissensgebäude den Anspruch, den Täter von der ersten Festnahme über seine Verurteilung und seinen Entwicklungsgang durch den Maßnahmenvollzug bzw. den Maßregelvollzug bis hin zur jahrelangen ambulanten/bedingten Betreuung nach Entlassung aus der stationären Maßnahme zu begleiten, zu evaluieren, zu dokumentieren. Damit wird eine gewaltige Verantwortung übernommen.

Urbaniok hat zu Recht festgestellt, dass die Diagnosen entsprechend den Diagnose-Manuals für die Psychiatrie, aber nicht für die forensische Psychiatrie entwickelt worden sind. Mit Recht unterscheidet er seine forensische Diagnostik von der allgemeinen psychiatrischen Diagnostik. Er lässt damit kategorische Systeme zugunsten einer dimensionalen Diagnostik fallen, er setzt auf Phänomenologie anstelle von ätiologischer Systematik, er lässt statistische Wahrscheinlichkeitsberechnungen für das Individuum aufgrund von Gruppen-Scores nicht mehr gelten, lehnt damit unsere gängigen Risikoinstrumente ab, sondern beurteilt das Risiko aufgrund der sorgfältig analysierten Struktur des Individuums. Diese neuen, durchaus Kritik auslösenden Ansätze, muss man als Begutachter erst einmal internalisieren, bevor man FOTRES anwendet.

Dieser große Anspruch von FOTRES auf strukturelle Integration in den gesamten juristischen und forensisch – psychiatrischen und psychiatrisch – therapeutischen Aufgabenbereich ist in Österreich noch gar nicht absehbar, wenngleich wünschenswert. Es ist zu prüfen, wie und wo FOTRES zunächst in den forensisch – psychiatrischen Aufgabenbereich in Österreich eingesetzt werden kann.

Die forensische Psychiatrie hat zunächst in Österreich gutachterliche Aufgaben zu bewältigen. Sie bestimmt weitgehend in Form von Einweisungsgutachten, wer vom Gericht in den Maßnahmenvollzug gemäß § 21 Strafgesetzbuch eingewiesen werden soll. Die Einweisung selbst verfügt der Richter, er verwendet zur Begründung die Erklärungen des dazu bestellten Gerichtspsychiaters. Der dafür maßgebliche Gesetzestext ist im Strafgesetzbuch ausformuliert. In der folgenden Auflistung werden die Punkte dargestellt, die für eine Einweisung in den Maßnahmenvollzug als vorliegend dargestellt sein müssen. Man kann dies – mit etwas abgewandeltem Text – in elf Schritte unterteilen, wobei Fettschrift die zu beantwortende Fragen darstellt. Zumindest drei dieser elf „Knackpunkte“ sind juristische, nicht vom Sachverständigen zu beantwortende Fragen, die übrigen sind psychiatrischer Natur bzw. dienen unmittelbar als Grundlage richterlicher Entscheidungen.

EINGANG ZUM § 21/1 und 2 StGB, JURISTISCHE UND PSYCHIATRISCHE SCHRITTE DAZU

  1. Wer ein Anlassdelikt (juristisch)……
  2. unter maßgeblichem Einfluss
  3. einer (oder auch von mehreren?) schwerwiegenden und nachhaltigen psychischen Störung begangen hat
  4. und dabei wegen dieser Störung zurechnungsunfähig nach §11 StGB oder auch zurechnungsfähig war,
  5. ist nach Paragraf 21/1 oder 2 in einem forensisch – therapeutischen Zentrum unterzubringen (juristisch), wenn
  6. nach seiner Person (Persönlichkeitsstörung),

                  seinem Zustand (psychotisch, verwirrt etc.)

                  nach der Art der Tat ( Tatmechanismus)

  • mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten ist, dass er
  • in absehbarer Zukunft
  • unter dem maßgeblichen Einfluss
  • seiner psychischen Störung (nicht einer hypothetischen oder möglichen anderen Störung!)
  • (eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen) juristisch!) beispielhaft folgende Straftaten begeh-en werde: … … …

Einer der Hauptgründe für mangelhafte Einweisungsgutachten in Österreich stellt der Usus dar, nicht auf diese 11 „Knackpunkte“ korrekt zu antworten. Oft werden mehrere psychische Störbilder genannt, ohne deren einzelne Relevanz für das Delikt zu erklären oder es wird nicht gesagt, ob die Störung schwerwiegend und nachhaltig ist, ob sie aus dem Persönlichkeitsprofil, von dem tataktuellen psychischen Zustand oder aus den Tatmechanismus abzuleiten ist. In diesem Zusammenhang ist auch sehr zu kritisieren, dass praktisch nie zwischen tatrelevanten Persönlichkeitsfaktoren und situativen Faktoren bzw. der Art der tatkausalen Gemengelage beider Faktoren unterschieden wird, womit eine der wichtigsten Funktionen der Beschreibung des Tatmechanismus unterbleibt und daher in Österreich die in jeder Hinsicht sehr bedeutsame Klassifizierung als Persönlichkeitstäter oder als situativer Täter nicht getroffen wird. In FOTRES muss man diese Unterscheidung sehr genau treffen, wodurch ein Kardinalfehler der österreichischen Prognosegutachten vermieden wird.

Psychiater Pius Prosenz (Foto: Blickpunkte)

Die Grundpfeiler des FOTRES- Systems stellen die Bestimmung des Basis – Risikos, der Ausprägung desselben, des Relevanzfaktors, über den das individuelle Risikoprofil handlungswirksam, deliktogen im Anlassdelikt manifest geworden ist und das, wenn sich keine Veränderung durch Therapie und Nachreifung ergibt, sich auch in Zukunft deliktogen auswirken wird. Dieses Basisrisiko wird in 147 psychologisch raffinierten Fragestellungen hinterfragt, wobei reale tatrelevante Eigenschaften ausgewählt werden. Die Praxis hat gezeigt, dass dies meist 2-7 relevante Risiko-eigenschaften sind. Dann wird der Ausprägungsfaktor dieser Risikoeigenschaften und schließlich – unter Berücksichtigung von intrapsychischen Hemm– und Kontrollfaktoren sowie von Art und Ausmaß tatrelevanter Umgebungsfaktoren – der reale Relevanzfaktor dieser Risikoeigenschaften sowohl auf die Anlasstat als auch für die Prognose – also die Gefährlichkeit – bestimmt. Hier kommt der sogenannte FOTRES – Algorithmus zum Einsatz, der letztlich einen Zahlenwert von 1-4 liefert als Ausdruck des zum Tatzeitpunkt wirksamen Risikoprofils, aber auch als Grundlage für die Abschätzung der Gefährlichkeit für zukünftige Delikte. Der Algorithmus gewichtet die einzelnen festgestellten Faktoren, verdoppelt etwa oder halbiert ihre Wirkung auf das Endresultat.

Eine statistische (aktuarische) Einschätzung der Gefährlichkeit unter Benutzung der Rückfallhäufigkeit von gewissen Deliktgruppen, wie dies zum Beispiel bei den heute in Österreich üblichen Prognoseinstrumenten gemacht wird, findet in FOTRES nicht statt und wird mit der Ungenauigkeit und Fehlerhaftigkeit der Datengewinnung für diese statistischen Berechnungen begründet. Es werden viele Ursachen für die Unmöglichkeit der Bestimmung echter Rückfallraten angeführt, die nur durch aufwändigste Kontrollmaßnahmen unter der Mitarbeit von Institutionen und Behörden möglich gemacht werden könnten, was aber bei den bisherigen Studien zur Evaluierung der gängigen Prognoseinstrumente nicht der Fall gewesen sei. Außerdem berücksichtigen diese Prognoseinstrumente nur die Persönlichkeitsfaktoren der Tat, nicht die situativen Faktoren!

Neben der Bestimmung des Basisrisikos samt Ausprägungs– und Relevanzfaktors sind die weiteren Eckpfeiler des FOTRES- Systems die Bestimmung der Basisbeeinflussbarkeit bei der Erstuntersuchung eines Täters sowie – und das wird als besonderer Vorteil in der Dokumentation des Verlaufs eines Täters im Maßnahmenvollzug und seines Veränderungspotenzials unter Therapie betrachtet – an die Erstuntersuchung anschließend Verlaufsevaluationen bis hin zur Bestimmung des Risikos bei geplanter Entlassung, natürlich auch im ambulanten Maßnahmenbereich.

Die Bestimmung der Beeinflussbarkeit des Täters bringt eine neue Sichtweise mit sich, die sowohl die Aussichten bei Therapiebeginn in der Maßnahme als auch die erreichte Veränderung bei den individuellen Risikoeigenschaften miteinschließt.

Als Gerüst für die Anwendung des FOTRES-Systems sind also die Bestimmung des Basisrisikos, seiner Ausprägung und Relevanz sowie die Bestimmung der Basisbeeinflussbarkeit anzusehen, weiters bei Kontrolluntersuchungen die Bestimmung des jeweils aktuellen Risikos und der aktuellen Beeinflussbarkeit bzw. Therapiewirksamkeit, dargestellt durch Besserung der aktuellen Beeinflussbarkeit über die Jahre der Therapie.

Sofort einsetzbar für die Aufgaben forensisch psychiatrischer Gutachter in Österreich ist das FOTRES-System im Bereich der Einweisungsgutachten, so für die Frage des Vorliegens einer schwerwiegenden und nachhaltigen psychischen Störung anhand der festgestellten meist 2-7 Risikoeigenschaften umfassenden Basisrisikoliste, wobei sowohl der Ausprägungsfaktor als auch der Relevanzfaktor entscheidend sind. Für die Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit ergibt sich kein weiterer Zusatzgewinn durch FOTRES. FOTRES bringt weiters Details zur Person, zum psychiatrischen Zustand und zum Tatmechanismus ein, weiters wird der Grad der Wahrscheinlichkeit für das Wiederbegehen des führenden (Ziel) Delikts präzisiert. Es ist daher damit zu rechnen, dass Einweisungsgutachten, mithilfe von FOTRES erarbeitet, dem Richter genauere und komplettere Angaben liefern wird.

Ein Einweisungsgutachten nach FOTRES liefert die Grundlagen und Anknüpfungspunkte für beliebig häufige Kontrollgutachten. Bei diesen Lockerungs– bzw. Entlassungsgutachten sind die Voraussetzungen etwa einer bedingten Entlassung aus der vorbeugenden Maßnahme nach § 47 StGB zu prüfen. Das Resultat der Bestimmung des aktuellen Risikos, der aktuellen Beeinflussbarkeit und der aktuellen Umweltfaktoren, wie in FOTRES vorgesehen, liefert dafür alle notwendigen detaillierten Unterlagen. Auch hier wird das Ergebnis solcher Gutachten objektiver, überprüfbarer und gerechter werden, als es bei den derzeitigen Lockerungs– bzw. Entlassungsgutachten der Fall ist.

Neben dem Versuch einer kurzen Darstellung des FOTRES- Systems nach Urbaniok – bei einem so komplexen System auf 642 Seiten nahezu eine Unmöglichkeit – erscheint das Aufzeigen von Möglichkeiten, FOTRES ohne großen Umbruch bereits derzeit im Gutachtensbetrieb vorteilhaft einzusetzen, von Wichtigkeit. Es wird jetzt darauf ankommen, junge forensische Psychiater, die noch über idealistische Vorstellungen verfügen, von diesen Vorteilen zu überzeugen und ihnen die Möglichkeit einer Einschulung zur Verfügung zu stellen.

Mehr zu FOTRES finden Sie hier: https://www.fotres.ch/

FOTRES
Diagnostik, Risikobeurteilung und Risikomanagement bei Straftätern
4. Auflage, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Paperback, 165 mm x 240 mm, 654 Seiten
5 S/W Abbildungen, 1 Tabellen, ISBN: 978-3-95466-655-3
erschienen: 11. Oktober 2021, € 129,95

One Reply to “FOTRES – kann das Schweizer System eine Modernisierung für die österreichische forensische Psychiatrie bringen?”

  1. Bin im Grunde eine positiv denkende und handelnde Person, allerdings kenne ich die Realität zum einen will so gut wie niemand der Nachwuchs Psychiaterinnen in der Forensik arbeiten, zum anderen ist die Österreichische Justitz grauslich, ja schmerzhaft träges System, welches sich rein auf Ankündigungen stützt, jedoch Null Umsetzung’s Kompetenz aufweißt.

    Insofern bin ich wenig Zuversichtlich das dieses „FOTRES“ System in Österreich gelebte Praxis wird, zumindest solange nicht bis die völlig überaltete Gutachterinnen Struktur und dessen darin handelnden Personen in Österreich, nicht verabschiedet wird.

    Danke für’s lesen.

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