Mit seiner Entscheidung vom 27. März 2025 (Nr. 4217/23) stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erneut klar: Wer psychisch krank ist, darf nicht in ein System gesperrt werden, das ihn weder schützt noch behandelt. Im Fall Niort gegen Italien erkannte der Gerichtshof gleich mehrere Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention – darunter Artikel 3 (Verbot unmenschlicher Behandlung), Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und Artikel 38 (Mitwirkungspflicht des Staates im Verfahren).

Ein Leben zwischen Zelle und Zwangsjacke

Simone Niort, geboren 1997, wurde wegen schwerer Delikte (darunter versuchter Mord) zu über zehn Jahren Haft verurteilt. Er leidet an einer schwerwiegenden Borderline-Störung mit antisozialen und paranoiden Zügen, ist seit Kindheitstagen psychiatrisch bekannt, drogenabhängig und zu 100 % als invalide eingestuft. Was danach folgte, ist ein Protokoll des institutionellen Scheiterns: Dutzende Selbstverletzungen, viele Suizidversuche, psychiatrische Kriseninterventionen, aber keine durchgehende Therapie.

Die italienischen Gerichte wussten um seine Erkrankung. Ein unabhängiges Gutachten von 2019 attestierte sogar, dass seine Störung reaktiv auf die Haftbedingungen sei. Dennoch wurde er nicht in ein psychiatrisches Krankenhaus verlegt, sondern zwischen den Gefängnissen Sassari, Cagliari und Turin hin- und herverlegt.

Justiz mit Scheuklappen

Besonders kritisch sieht der EGMR die Argumentation der italienischen Strafvollzugsgerichte: Einerseits wurde mehrfach anerkannt, dass Niorts Zustand nicht kompatibel mit dem Gefängnis sei. Andererseits verweigerte man ihm die Verlegung in eine medizinische Einrichtung, teils mit der Begründung, er verweigere selbst die Einnahme von Medikamenten. Dass diese Weigerung Teil der psychischen Erkrankung ist, wurde dabei ignoriert. Auch das von einem Gericht angeordnete psychiatrische Gutachten aus 2021 wurde dem EGMR nicht übermittelt, obwohl es zentral gewesen wäre – ein Verstoß gegen Artikel 38 EMRK.

Kritik an systemischem Versagen

Der EGMR kritisiert nicht nur die Haftbedingungen, sondern vor allem das Fehlen einer effektiven medizinischen Gesamtstrategie. Die Betreuung bestand aus gelegentlichen Gesprächen nach Suizidversuchen, teils in einer „Zelle ohne Gegenstände“ (Zelle lisse), und dem Verzicht auf eine nachhaltige Therapie. Die medizinischen Maßnahmen blieben fragmentarisch und reaktiv – und damit menschenrechtswidrig.

Zudem bemängelte der Gerichtshof, dass gerichtlich angeordnete Maßnahmen, etwa die Suche nach einer geeigneten Einrichtung, nicht umgesetzt oder stark verzögert wurden, was einen Verstoß gegen Artikel 6 darstellt.

Konsequenzen für den Maßnahmenvollzug

Dieses Urteil ist ein mahnendes Signal an alle Staaten, die psychisch kranke Straftäter in Gefängnissen unterbringen, ohne die nötige psychiatrische Versorgung sicherzustellen. Besonders relevant ist es für Länder wie Österreich, in denen die Grenzen zwischen Strafvollzug und Maßnahme oft verwischen, auch hier werden Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in Anstalten festgehalten, die weder ausreichende Therapieplätze noch genügend fachlich qualifiziertes Personal bieten.

Der EGMR betont erneut: Wer einsperrt, trägt Verantwortung – und diese endet nicht mit der Schließung der Zellentür, sondern beginnt dort erst.


Quellen: EGMR, Urteil Niort gegen Italien, Nr. 4217/23, 27.03.2025.
Hinweis: Die vollständige Urteilsbegründung ist abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/?i=001-242444


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